D-Q4510: Difference between revisions

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Revision as of 23:00, 1 February 2019

Metadata Item:Q4510

Transcript

Mein Leben und Charakter

Qu praesiare caeteris animalibus student,
Vitam silentio transeant
Sallustius

<[3] 1>
Nicht der geäußerte Wunsch großer Männer*[1]; daß man mehrere,
mit Einsicht geschriebene Biograpphien des mitlern Standes, haben
sollte, sondern mein eigener moralischer Vortheil, mich selbst beßer
kennen zu lernen, Spuren der göttlichen Vorsehung an mir tz
entdecken, und den erlauchten Orden näher bekannt zu werden,
dieß veranlaßet mich, gegenwärtige Beschreibung meiner
Lebensgeschichte und meines Charakters zu entwerfen, Um
Ihr das Gepräge der Wahrheit aufzudrücken, konnte ich nicht
Einzelne Stellen heraus heben, sondern ich bin im Zusammen-
Hange geblieben, und wenn aus dem Grunde zuweilen einige
Mikrologien vorkommen, so wird der Leser die Hauptabsicht
Doch zu edel finden, als daß er eine kleine Umständlichkeit
Um deswillen nicht gern zu verzeihen belieben sollte.

Mein vierzehntes Jahr ist die Zeit, in die ich mit
Gewißheit zurück denken kann, oder in welcher ich anfieng,
auf Welt und Daseyn aufmercksam zu werden. Ein unglück-
licher Zufall mochte hieran vielen Antheil haben. Denn es|<[4>
ist damit nicht selten, wie mit der Stummheit des jungen Crösus,
der plötzlich die Bande seiner Zunge zerriß, und reden konnte,
als er seinen Vater in der Gewalt feindlicher Soldaten er-
blickte.(x) [2][3]

Der meinige, gerade das Gegentheil vom Crösus, war
Docent einer kleinen Stadtschule, doch werth, daß seine
Wißenschaften beßer erkannt und belohnt worden wären,
gerieth in die Hände des unerbittlichen Feindes, auf eine
Art, die unter den besondern Todesveranlaßungen mit
Recht ihre Stelle verdient. Er hatte nehmlich gehört,
daß sein ehemaliger Lehrmeister in der Nähe Prediger
geworden war, und bediente sich daher einstmahls der
gewöhnlichen Freystunden, selbigen zu besuchen, um nach
so vielen Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten,
die Liebe und Freundaschaft zu erneuern, die unter
guten Lehrern und Schülern eigentlich niemahls veraltet.
sie sehen einander, - sind vergnügt. Beym Abschied|<[5] 2>
will ihn der Pastor durch den Pfarrgarten, wo das Gesinde
einen Weg über die Wand gemacht hatte, etwas näher
führen. – Die mürbe Wand giebt nach – mein Vater fällt,
und verengt den Fuß.

Man hält anfänglich den Schaden für zu gering, oder
denkt vielleicht auch zu gut von dem Chirurgus, als daß
man in deßen Geschicklichkeit einiges Mißtrauen hätte
setzen sollen. Die Sache geht schlecht. – Weder Schwulst
noch Schmerzen wollen sich legen. – Der Patient verlangt
nach Hauße – wird kräncker – ein Fieber bemächtiget
sich seiner – er fühlt sein nahes Ende, welches der Medicus
bestätiget – entdeckt es unserer Mutter, die ganz in
Thränen zerfließt; - wir werden um sein Bett ver-
sammlet – er segnet uns – weint selbst mehr, als er
spricht – beschäftiget sich besonders mit dem Jüngsten,
einen Knaben von vier Jahren – liegt noch wenige Tage, und stirbt|<[6>

Welche Aussicht für die Mutter mit fünf Kindern, ohn
alles Vermögen!

Doch wie der Blitz selten den Baum trift, ohne auch die
Zweige mit sich niederzureißen, so wurden wir zu gleicher
Zeit alle bettlägerig, todtkranck, und unsere Mutter, ob
sie schon der Macht ihrer Leiden, die ihr eigenthümliche
Stärcke der Religion, anhaltend entgegen setzte, so wurde
sie doch von überwiegenden Schmerz und Kummer so
plötzlich besiegt, daß sie binnen acht Tagen unserem Vater
in die Ewigkeit nachfolgte.

Da wir ohne Bewußtseyn darnieder lagen, so erfuhren wir
ihren Todt nicht eher, als biß wir wieder anfiengen
einer nach dem andern das Lager zu verlaßen; fragten,
weinten, sahen und lächelten uns an, als Genoßen
einerley Unglücks, die gewöhnlich die beßten Freunde
zu seyn pflegen. Einer hieng am andern; der
Schwächere an dem Erholteren; nichts fiel dem einen
bey, der andere, wo er könnte, gewährts ihm; und ist|<[7] 3>
es auch nur Dichtergedancke, was ich vom Herabschauen
der Verstorbenen irgendwo gelesen habe, so gefällt er
mir gleichwohl, weil ich wünschte, daß unsere Eltern
alle die Eintracht möchten gesehen haben, die unter uns
herrschte, und die uns das Elends, dieser würcksame Lehrer
und Freund menschlichen Herzens, ietzt weit natürlicher
und schöner in uns hervor brachte, als alle Grundsätze der
beßten Erziehung.

Zu weit entlegen von unsern Verwandten, und beynahe
als verpestet ausgeschrien, (wie denn auch würcklich eine
Epedemie derselben dmahls den Anfang genommen hatte) also fast
von iedermann, und so gar obrigkeitlicher Vorsorge
verlaßen, waren wir genöthiget, und selsbt alles in
allem zu seyn; Rathgeber in Veranstaltungen; Auf-
seher bey Feuer und Licht; Schutz zund Beruhigung wieder
kindliche Furcht; Arzt und Trost, so oft der unrecht-
gestillte lebhafte Adpetit, der nach solchen Kranckheiten
zu erfolgen pflegt, den einen oder den andern mit|<[8>
Rückfall bedrohete.

Auf diesen Fuß lebten wir biß wir uns sämmtlich
erholt, und Vormünder bekommen hatten, die für unser
Unterkommen und für den Verkauf der entbehrlichen Mo-
bilien sorgten.

Mein ganzer Erbantheil bestand in Zehn Thalern an
Gelde, in einem Bett, und zweyen Kircheniahrgängen, womit
ich wieder auf die Schule nach Buttstädt zurück gieng, die ich
kurz vor dem Usturz unserer Familie erst bezogen hatte.

Nicht iugendlicher Leichtsinn, sondern eine natürliche
Anlage, dem Unglück zu wiederstehen, machten mich gegen
meine Umstände ziemlich gleichgiltig, und de fast gr[oßen-]
theils vergebliche Sorge fürs Zukünftige, fand bey mir
so wenig statt, daß ich auf eine socratische Art un-
willig wurde, wenn iemand durch weibisches Beklagen
meinen kleinen Heroismus zu nahe treten wollte.

Ich konnte singen, schreiben, und hatte die Anfangs-
Gründe der Latinität inne. Dieß mit dem nöthigen
Sittlichen Betragen vereiniget, gewährte mir bald die|<[9] 7>
Liebe meiner Präceptoren und auch solcher Persohnen, die für
Singen, Schulsache, und Republick, weiter kein Gefühl hatten.

Mein Haußwirth war der damahlige Organist Krebs,[4] eon
armer aber glücklicher Vater dreyer berühmt gewordenen Söhne,
davon der eine Recktor(x)[5][6] der Provinzialschule in Grimma, der zweyte
Hoforganist in Altenburg, und der dritte Recktor der Buttstädtischen
Stadtschule gewesen ist. Dieser mein Haußwirth, war einer von
denjenigen Alten, die ohne beym Catheder geseßen zu haben,
dennoch so viel allgemein Brauchbares verstehen, und dieses so
gut anzuwenden wißen, daß ich vermutze, Sirarch habe in
seinem Ausspruche; geselle dich gern zu den Alten, auf daß
du Weißheit von ihnen lernest p. diese Claße hauptsächlich ver-
standen wißen wollen.

Er hatte meine zehn Thaler im Beschluß, und selbst der
Strengste Nothfall erlaubte mir nicht, etwas davon angreißen
Zu wollen. Um mich beständig auf meine Umstände aufmerck-
sam zu machen, ließ er es nicht an Erinnerungen fehlen, die
er doch niehmahls geradezu anbrachte. Er that es auf die|<[10] 8>
sicherste Art, immer mit anderm Worten, und bey Gelegenheiten,
die mich nicht anzugehen schienen. Merckte er, daß mir der
kleine Verräther des Herzens, die Zähre des Ehrenpücktgens
ins Auge stieg, so hatte er auch schon den Balsam bey der
Hand, womit er die Wunde heilte, indem er das Gespräch
Entweder auf angenehmere Gegenstände richtete, oder der
Ehrbegierde selbst, eine Lobrede hielt, wie sie nehmlich, von der
Vernunft geleitet, oft der alleinige Grund, wahrer guter,
edler, und großer Handlungen sey, u. d, g.

Durch diese Behandlungsmethode und andere würdige
Eigenschaften des Mannes, wurde ich ganz natürlich an ihn
Hingezogen, und es würde eine meiner beschämendsten Er-
innerungen seyn, wenn ich deßen redliche Absichten irgend
iemahls nicht völlig entsprochen haben sollte; wäre es auch mit
einigem Zwange geschehen.

Ich bewieß mich auf die möglichste Art dienstfertig, und
Der Nahme Haußwirth und Haußwirthin, verwandelte sich
Dagegen immer mehr in den weit behaglichern eines Pflege-
Vaters und einer Pflegemutter. Ich wohnte unentgeltlich
Im Hauße; genoß freyen Clavierunterricht, und alle|<[11] 9>
Die unnennbaren Kleinigkeiten von der Semmel biß auf die
Unentbehrliche Stecknadel.

Zwey Jahre waren nunmehro verfloßen, als der Rector
Dasiger Schule, Magister Magen, Bruder des noch lebenden
Leibarztes in Sondershaußen, mit Todt abgieng. Der Krebsische
iüngste Sohn, Student in Leipzig, Schüler und Liebling von
Ernesti, hatte sich vorzüglich den Schulwißenschaften ge-
widmet, und wurde vom Stadtrath zu der vakanten Stelle
berufen. Es ist leicht zu erachten, wie sehr sich iezt der
Himmel meiner Haußwirthsleute aufblühete, wobey zugleich
ein nuerr heiterer Strahl göttlicher Vorsorge, auch auf mich
mit herabschien. Denn die Gesinnungen der Eltern wurden
nun auch die Gesinnungen des Sohnes. Er ließ mir alle
Privatstunden frey genießen, verlangte aber auch davor
Weislich zweymahl so viel Fleiß, als von denen die sie
Bezahlten.

Seine Methode war die Ernestische. Er kannte die Wege
auf welchen einer iunge Leute zu bilden pflegte; hielt
ungemein streng auf tägliches Elaboriren, und auf Ordnung|<[12] 10>
der Hefte, so wie darauf, daß der Mantel stets symmetrisch
auf beyden Schultern hängen mußte.

Ich saß fünf Jahre unter ihm, und hatte beym Weggange
Auf die Academie eine so ungeheure Menge von Exerzitien
Versen, Übersetzungen, p. daß sich der ganze Pindus[7] damit tapeziren laßen.

Er trieb sein Schulamt nicht mechanisch; war Vater und Freund
seiner Schüler, Beobachter auch wo wirs nicht vermutheten,
und – – mit ein wenig Pedanterey, die sich nicht ganz
davon trennen läßt, ließ er sich besonders auch unser
moralisches Wachsthum angelegen seyn.

Noch ehre ich seine Asche vor iede Liebe, die ich zuweilen
vor Strenge erkannte. Er war kein Mann nach der Welt,
aber ein Mann für die Welt, die ihn verlohr, wenn sie
zehn andere kaum vermißet.

Bey dem allen blieb meine damahlige Jugend, in gar
vieler Rücksicht, ein dornigter rauher Weg, der von Schmerz
zu Schmerz übergieng, und wäre nicht dieses Alter mit
derjenigen glücklichen Leichtigkeit versehen, mit der es|<[13] 11>
sich über alle, besonder auch aus der Armuth entspringende
Leiden, so wundernswürdig hinweg sezt, opder ich hätte von
der Natur weniger kühnen Geist gegen das Unglück gehabt,
so würde ich wahrscheinlich vor der Zeit von der Stelle ver-
drängt worden seyn. Das Horazische: non possidentem multa
vocaveris recte beatum[8] oder, daß selbst der thebanische Held.
Epanimondas,[9] so lange zu Hauße bleiben mußte, wenn
Er seinen einzigen Rock zum Schmiede schickte, schien mir
Damahls wie vom Himmel herunter gesagt, und würde es noch
Scheinen, wenn der Mensch, ach allgemein bestätigter Erfahrung,
in einem Leben von gewöhnlicher Länge, nicht drey verschiednee
Epochen in seinen Gesinnungen machte.

Dich wie? Ist es Ehre, oder soll ich mich schämen, zu gestehen,
das wohlthätige Brod gemeiner Bürger gegeßen, und vor den
Thüren gesungen zu haben? Oder soll michs überhaupt gereuen,
sieben Jahre im schwitzenden Kercker der Schulstube verweilt, und
auch außer demselben so manche Stunde beym elenden Scheine
der Lampe, oft mit vertrocknetem Gaume, unter der ungewiße-
sten Hofnung, verlebt zu haben?

Nichts von alle dem! Mir war unverschuldete Armuth|<[14] 12>
Schande, und nie wurde etwas gelernt, daß iezt oder
Künftig von einigem Ertrag gewesen wäre.

Ich gieng meinen Weg getrost fort; bephilosophierte ihn, so
Gut ics konnte; nahm die Sachen, wie sie waren, und noch erinnere
Ich mich mit Vergnügen der teilnehmenden Discourse, wen mein
Recktor seine Eltern besuchte, und nun über meine Zukunft ge-
meinschaftlicher Rath gehalten wurde. Ich sollte studiren, das
wollten sie alle, und biß auf den Umstand der Kosten, war
auch von meiner Seite alles berichtiget. Hätte ich meiner
Lieblingsneigung folgen können, die freylich auch Unterstützung
Erforderte, wo wäre ich Künstler geworden. Dieß lag mir
Eigentlich ganz in Adern und Gebeinen.

Inmaßen hatte ich das achtzehende Jahr erreicht, fieng an,
gegen meine kleine Hypothese vom guten Muthe doch etwas
nachgiebiger zu werdenm und fühlen, daß der Leib ganz
anderer Art sey, als die Seele.

Ich bemühete mich, ein Stipendium zu erlangem. Zu unbe-
kannt mit den Ursachen, nach welchen es denen Testaments-
Executoren oft unmöglich wird, dergleichen Stiftungen nach
Der wahren Absicht zu vertheilen, hofte ich nichts gewißer,|<[15] 13>
Als die Erfüllung meiner Bitte; allein, dem Suplicant
Wurde auf sein unterm – – zur Resolution ertheilet: daß
weilen die Legata bereits auf verschiedene Jahre hinaus vergeben
wären, deßen Gesuch vor der Hand nicht – –. Ein zweytes
Rescript enthielt: daß es bey der unterm – – sein Bewenden
Behalte, und das dritte würde, bey fortgesetztem Bombardment,
wahrsxheinlich mit einem: nicht weiter zu behelligen, geschloßen
haben.

Das servare mentem in rebus arduis[10] schien demnach
Alles was mir zu thun übrig blieb, und wenn der von Kebens-
mitteln emtblößte Schiffer auf offenbahrer See, noch darzu
das todesängstliche Unglück sieht, von einer ganzen Welt
voll Menschen abgeschnitten zu seyn, so war ich doch nur
auf festem Lande dürftig, – war es ohne Verschulden, und
unter Menschen, die den Glauben wenigsten nicht alle ver-
läugnen.

Diese verfehlte Hofnung beunruhigte mich, aber den Hauptvorsatz
Änderte sie nicht. Vielweniger war ich so blödsinnigm deswegen
An der Einrichtung und menschlichen Verwaltung der Welt etwas
zu meistern. Mein Vaterland und die Obrigkeit drinn, er-|<[16] 14>
hielten in meinen Gebeten, die ich mir gewöhnlich selbst zu ver-
fertigen pflegte, eine desto vorzüglichere Stelle. Denn Gottes-
Amt ist es, Blitze zu werfen; wer hinein greift, wird davon
getroffen.

Notes

  1. [Fußnote im Text]
    Gellerts moral. Vorles.<br<p. 207.
  2. [Fußnote des Texts]
    (x) ανϑζωπε, μ[Zeichensatz recherchieren
  3. Bezug recherchieren
  4. Johann Tobias Krebs, geb. 7. Juli 1690 in Heichelheim; gest. 11. Februar 1762 in Buttstädt, Organist, Komponist und Kantor, in der Forschung diskutiert als möglicher Komponist der Acht kleinen Präludien und Fugen (BWV 553–560).
  5. [Fußnote Text:]
    (x) Tobias Krebst ist besonders durch seine philologischcritichen
    Animadversiones über das neue Testament bekannt.
    Riedel sagte einstmahls, daß er seine Rangordnung in der griechischen
    Literatur so mache: Ernesti, Damm, Krebs
  6. Personenrecherche
  7. recherchieren
  8. Stelle recherchieren
  9. Personenrecherche
  10. “Den Verstand bewahren in harten Lagen“ recherchieren