D-Q6635

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Commentary

August von Gotha erhielt auf seine Abhandlung über die zwei Klassen von Irrtümern hin hinter den Kulissen Post von Henricus Stephanus alias R. Z. Becker, der ihn darauf aufmerksam macht, dass seine Einteilung schlecht beobachtet und seine Klassifizierung nach einer Theorie der Elektrizität nicht aufgehe.

Becker, dessen Brief in Auszügen eingefügt ist und unter dem Zitat von August wiederum kommentiert wird, agierte mit Witz und schlug August vor, wie er in einer gelehrten universitären Disputation aus dem Dilemma komme: indem er Elektrizität mit Franklin definiere als eine Sache von Überschuss und Mangel statt Anziehung und Abstoßung. Dann bleibe ein kleines Problem, dass plus und minus falsch gesetzt wurde, doch das werde im Eifer des Gefechts niemand von der philosophischen Fakultät bemerken, und halte er das Magisterdiplom in Händen, werde man es ihm nicht mehr wegnehmen können.

Der Fürst bringt den Brief im Auszug zur Kenntnis und gibt sich belehrt und geschlagen – eine sehr noble und egalitäre Interaktion.

Transcript

Auszug eines Schreibens von Heinricus Stephanus an Walther Fürst.

Die Eintheilung (der Irrthümer in zwey Classen, nämhlich in positive und negative) „diese Eintheilung be-
ruht auf der Vergleichung unseres geistigen Zustandes mit einer bekannten Verschiedenheit der harzigen und und glasartigen Körper
in Ansehung der Electricität; und zwar soll sie sich vornehmlich auf den Umstand beziehen, daß eine Art dieser elektrischen
Körper das zurückstöße, was die andere anzieht, und daß beyde doch zuletzt in Eins zusammen fließen.

Das Anziehen und Zurückstoßen bey der Electricität geschieht nun aus dem Mittelpuncte; und richtet sich nach der
Beschaffenheit des Objects, das in den elektrischen Wirkungskreis gebracht wird. In der gemachten Anwendung
dieses Phänomens auf die Irrthümer, treten also diese an die Stelle der electrischen Materie, und der Geist ist das
Object, welches angezogen oder zurück gestoßen wird. Die Richtung welche die positiven und negativen Irrthümer dem
Geiste gäben, müßte folglich eben so entgegengesezt seyn, wenn die Vergleichung passen sollte. Es scheint aber, als ließe
sich bey der Wirkung des Irrthumes auf den Geist nichts anders als ein Richtungspunct gedenken, ausser der Un-
vollkommenheit, dem Mangel der Entwicklung desselben; und dahin treiben ihn nach dem Ausdrucke der Abhandlung
selbst, beyde Arten des Irrthums, obgleich auf verschieden Wegen. Die Eintheilung dürfte also, in dieser Rücksicht
betrachtet, wohl keine wahre Species des Irrthums abgeben.

Allein (sezt unser geliebter Bruder Heinrich Stephanus aus Schonung hinzu) Allein mich dünkt
das Schwankende desselben blos in dem Ausdrucke der gewählten Vergleichung, nicht in der Sache selbst zu liegen,
und der eigentliche Sinn dieser zu seyn:

Einige Irrthümer halten den Geist in seinem unvollkommenen, unentwickelten Zustande fest: andere
stoßen ihn aber dadurch, daß er sich entwickelt, und seinen Vorrath von Materialien bearbeitet, |<2>
tiefer in den Zustand dunkler und verwirrter Begriffe zurück.“

Das angeführte Beyspiel von den verschiedenen Vorstellungen vom Sonnensystem erläutert diesen Sinn der Eintheilung.“

(Anmerkung. – Ich hatte nähmlich mein ungeschicktes Gleichniß dadurch zu unterstützen geglaubt, daß ich
Irrthümer in der Astronomie, blos auf die Unwissenheit; den Wahn der Sterndeuterey hingegen, auf
die Verwirrungen der menschlichen Einbildungskraft schob.
)

„Irrthum“ (fährt unser lieber Bruder fort) „Irrthum ist ja nichts anders, als unrichtige Verbindung eines
Prädicats mit einem Subject. Die Unrichtigkeit liegt nun entweder darin, daß man ihr wahres Verhältniß
nicht weiß, oder daß man ihnen eines zuschreibt, das sie nicht haben. Im ersten Falle wird der Geist die
Idee nicht weiter bearbeiten: also in Rücksicht derselben in seiner Unvollkommenheit verbleiben und fort
gehalten werden. Im anderen Falle wird er durch seine Operation selbst, da er dem Subjecte ein falsches Prädicat
giebt, desto tiefer in Verwirrung und Dunkelheit sinken, je mehr er den falschen Gedanken entwickelt,
und mit andern verbindet.

Wer sieht nun nicht“ (fügt er, mich zu trösten, gütig hinzu) Wer sieht nun nicht, daß dieses
zwey wesentlich verschiedene Classen der Irrthümer giebt?
 
Die erste entsteht aus der natürlichen und zufälligen Eingeschränktheit des Eingeschränktheit des Geistes und
seines Fassungskreises: die andere aus seinem Triebe nach Wirksamkeit.

Bey jener verhält sich der Geist leidend, bey dieser thätig.

Jene, ist eigentlich bloß Mangel, Abwesenheit der Wahrheit: diese, wirklich vorhandene
Unwahrheit.

Bey rohen Völkern findet sich die erste: bey cultivirten die zweyte am häufigsten.

Eben so verschieden müßte also auch das Verfahren seyn, wodurch beyden Classen Abbruch geschehen|<3>
könnte.

Jene würde Unterricht, Erweiterung der Kenntnisse, Erweckung des Wissenstriebes erfordern: diese hergegen Heilung der
Wißbegierde, Berichtigung der Einsichten, Zurückhaltung der Phantasie und Regierung der Denkkraft.

Bey der Jugend ist jene der Gegenstand des Unterrichts: diese der eigentlichen Erziehung.

Diese wenigen Vergleichungspunkte“ (sagt er sehr bescheiden) „zeigen schon daß der eigentliche Zufall der Eintheilung reel und
fruchtbar an Folgen sey; wenn auch der Nahme positiv und negativ aufgegeben werden müßte.“ (Ich brauche Sie wohl,
M. M. B. B. [Meine Brüder] an die sehr wesentliche Aufhellung und Veränderung meiner Frage nicht erst zu erinnern) „Allein“ (schreibt er
ferner) „Allein wenn ich als Magister pro gradu über diese Materie zu disputieren hätte: so würde ich mir auch den
Nahmen nicht nehmen lassen. Beträchte [sic = Brächte?] ich meinen Opponenten bis dahin, daß er mir die erzählten reellen Verschiedenheiten
beyder Classen der Irrthümer eingestände; so würde ich sie noch einmal summiren und nun sagen: „Wenn dem also ist,
so folgt auch daraus, daß meine obige Eintheilung der Irrthümer in positive und negative Irrthümer, eben so richtig als
neu sey. Ich bekenne mich nähmlich zur Franklinischen Theorie der Electricität. Nach dieser ist die Negative
so viel als — Beraubung, Mangel des natürlichen Maaßes; die Positive — Überfüllung der electrischen Materie:
fast so wie die positiven und negativen Größen oder wie plus und minus in der Arithemetik.[1] Jene
verneinen das Daseyn einer Realität; diese setzen es fest. Aber nach den erzählten und zugegebenen Eigen-
schaften meiner beyden Classen der Irrthümer giebt die erste ein wahres Minus in der Summe der Er-
känntnis; darum nenne ich sie negativ: die andre, wo dem Subject ein falsches Prädicat beygelegt
wird, giebt plus, darum nenne ich sie positiv. Negative Irrthümer gründen sich also auf Unwissenheit
und Eingeschränktheit des Geistes, und sind Mängel des Gedankensystems: positive gründen sich auf
falsche Anwendung der Denkkraft, und sind Fehler des Gedankensystems. In diesem Verstande scheint der Ausdruck
der Sache ziemlich angemessen, und wenn der Herr Opponent nicht bemerkt, daß ich den Spies umgekehrt habe, und|<4>
jetz das negativ nenne, was oben positiv war: so muß er sich für überwunden bekennen. die Facultät [teile]
mir aber das Magisterdiplom aus, auch wenn er den Betrug entdeckt; wofern ich nur die Gebühren bezah[le]

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Ich für mein Theil, bekenne mich gleichfalls für überwunden, und statte hier öffentlich unserm geliebten Bruder
meinem innigsten, wärmsten Dank wegen der Berichtigungen ab, die Er mit eben so viel Offenheit als Scharfsinn [und]
gründlicher Einsicht meinen schwankenden Begriffen zu geben gewußt hat. Es ist nur allzu augenscheinlich geworden,
daß ich, in meiner Eintheilung der Irrthümer in zwey Classen, eine unrichtige Verbindung der Prädicate mit mein[em]
Subjecte
gemacht, und mich eines sehr unrichtigen Gleichnisses mit der Electricität bedient habe. Indessen ist mir,
was nach Wahrheit zielt, viel zu schäzbar, und alles was meine Gedanken aufhellen kann, viel zu werth, als daß
ich mir nicht, im gegenwärtigen Falle, zu einem Irrthum Glück wünschen sollte, der zu meiner besseren Beleh[rung] dienen mußte.

Walther Fürst

Notes

  1. Benjamin Franklin bezeichnete als erster die unterschiedliche Ladung elektrischer Teilchen mit den Begriffen ‘plus’ und ‘minus’.