D-Q6666

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Commentary

Die Aufsätze SK13-067, SK13-093 und SK13-095 sind im Text identisch. SK13-093 dürfte der originale Text sein, das wird klarer auf der zweiten Seite des Manuskripts, auf der sich Einfügungen finden, die nachher in die Abschriften übernommen wurden. Auch der Schriftvergleich passt – die Stellungnahme SK13-065 zu SK13-001 (Bohn über Behandlung der Gefangenen) ist in derselben Schrift geschrieben und im Gegensatz zu den anderen Abschriften von selbst identifiziert. Seitenzahlen mithin 5024 ff. Das Transkript folgt also SK13-093.

Von den Aufsätzen zum Thema ist dies der wohl am klarsten durchdachte und der politisch interessante, da er zu einer Kritik an den Monarchien führt, die strukturbedingt ihren Bürgern wenig Raum für interessante Partizipation lassen. Spannend zudem der Blick auf die unteren Klassen und das weibliche Geschlecht. Für alle müsste nachgedacht werden.

Die Eröffnung geht der Frage nach, ob es überhaupt sinnvoll ist den Zeitvertreib nützlich zu machen. Die Antwort ist, dass nützlicher Zeitvertreib seine Funktion einbüßt, sich Kalkülen der Leistung und des Kommerzes aussetzt, einer Bewertung, die Ziele einbringt und die Leichtigkeit und Ziellosigkeit nimmt, ob derer man einen Zeitvertreib gegenüber gerichteter Tätigkeit und Anstrengung suchen sollte.

Spannend ist die Wendung vom Zeitvertreib in die notwendigen Tätigkeiten. Eigentlich müsse darüber nachgedacht werden, wie man sie verbessere. Und dann die Ausweitung in die gesellschaftliche Partizipation als Notwendigkeit – die in kleinen deutschen Staaten schlecht organisiert sei – sie unterdrücken sinnvolle Tätigkeiten, anders als Republiken.

Ein kurzer Seitenblick auf geschlossene Gesellschaften und Wirtshäuser verdient eine Recherche.

Rom und Griechenland sind hier abermals die Idealorte, doch nicht da damals der Jüngling hier noch Orientierung im Idyll fand, sondern da hier republikanische Staatswesen die Beteiligung der Bürger am gesellschaftlichen Leben interessant machen. Paris taucht in den letzten Absätzen als neuer Ideal-Ort auf, man übernimmt von hier alberne Moden nicht jedoch die neuen Gesellschaften, die sich mehr Partizipation auf den Plan setzen.

Handeln wäre besser als Denken und Schreiben, indes will er als Ortsfremder nicht Vorschläge machen, und überdies solle jeder den Platz ausfüllen, den Vorsehung und Staat ihm gäben – so der fast aufgesetzt wirkende, untertänige Schluss.

Der Aufsatz existiert in mehreren, Abschriften, die sich wohl samt und sonders den Mitbrüdern zuordnen lassen. Man muss nachdenken, wer da ein Interesse an den Kopien hat. Sehe ich es recht, ist der Bruder des Gothaer Herzogs unter den Interessenten.

Transcript

N: I.
Untersuchung der Frage:
„Wie kann man den gesellschaftlichen Zeitvertreib nützlich machen,
ohne daß er langweilig oder pedantisch werde?“
Diese Frage läßt sich aus verschiedenen Gesichtspunkte betrachten.

Sie kann heissen:

1) Wie können die unter uns gewöhnlichen Zeitvertreibe, die Gespräche,
    Spiele, Spaziergänge p. nützlicher, als bisher, gemacht werden?
2) Sind nicht neue Zeitvertreibe zu erfinden, welche die verlangten
    Eigenschaften haben?
3) Wie ist der Ton des geselligen Umgang überhaupt mehr auf
    den Nuzzen zu stimmen, ohne daß er seine Annehmlichkeiten verliere?

In allen 3 Fällen setzt die Frage voraus, daß die in unsern Gesellschaften
jetzt gewöhnlichen Zeitvertreibe unnütz, oder wohl gar schädlich wären. Um also
richtig darauf zu antworten, schien es mir am besten, diese wirklich gewöhn-
lichen Zeitvertreibe mit dem Zwecke zu vergleichen, der dadurch erreicht
werden soll. Auf diesem Wege glaubt ich ihre Mängel und Fehler an sich am sicher-
sten zu entdecken, und zugleich den Maaßstab für den Werth neuer Vorschläge
in diesem Fache zu finden.

Allein die darüber angestellte Betrachtung hat mich, statt der Auflösung
der Frage unvermerkt auf den entgegengesetzten Gedanken geführt, daß es
nämlich so gar unrecht und schädlich seyn würde, Zeitvertreibe nützlich ma-
chen zu wollen. Ich dachte so.

„Das ganze Leben besteht in einer Reihe auf einander folgender Empfin-
dungen Gedanken und Handlungen (actus). Bey allem was wir Arbeit
und Geschäfte nennen, ist der Inhalt und die Folge dieser Zustände der Seele
vorgeschrieben, und eben das ermüdet uns, daß die Aufmerksamkeit gespannt,
und auf bestimmte Gegenstände geheftet ist. Der Zeitvertreib hebt nun die da-
her entstandene Erschlaffung des Geistes: so wie die Ruhe den Körper erquikket.
Ich finde aber zwischen dem Körper und der Seele in diesem Puncte voll-
kommene Gleichförmigkeit. Ruhe ist für den Körper weiter nichts, als |<2>
Stillstand der Anstrengung. Sie nimmt eigentlich das Gefühl der Ermüdung
nicht hinweg: sondern läßt nur der thierischen Maschine Zeit und Raum,
durch die mechanische Verarbeitung des Lebenssaftes den Muskeln ihre
vorige Schnellkraft wiederzugeben. Eben so scheint es mit dem Zeit-
vertreibe
für die Seele zu seyn. Er setzt sie in einen solchen Zustand,
wo die von der vorigen Anstrengung auf bestimmte Gegenstände er
müdete Denkkraft durch ein nunmehr frey gelassenes Spiel der Ideen
ihre vorige Reizbarkeit und Stärcke wieder erlangt. Die Haupteigen-
Schaften, die der gesellschaftliche Zeitvertreibe haben muß, sind folglich:
Freiheit der Gedankenfolge, und Beförderung einer leichten und ange-
nehmen Gedankenreihe durch die Gegenstände, welche die Gesellschaft dar-
bietet. Die Erholung des Geistes geschieht alsdann dadurch, daß er sich mehr
leidend als thätig dabey verhält, die Eindrücke aufnimt, wie sie kom-
men, und eben so dem zufälligen Gange der Phantasie und des
Verstandes freyen Lauf läßt.

Diese Beschaffenheit der menschlichen Seele ist der Grund von allen
den Klagen über Mangel an Zeitvertreib, oder wie man hier spricht, an
Spaß, in den meisten Gesellschaften, die blos zum Zeitvertreib angestellt
werden. Sie macht auch daß man in der Unité vielleicht nicht so ver-
gnügt ist, als in der Pauvreté,[1] daß der Werneburg[2] weniger Lange-
weile herrscht, als in der glänzendsten Assemblee, und daß sich Kinder
gemeiniglich lustiger machen, als Erwachsene. Denn so bald ein be-
stimmter Ton, konventionelle Manieren, ängstliche Vorsicht in der Wahl
und dem Ausdrucke der Gegenstände in der Gesellschaft beobachtet, also die
Seele in einer regelmäßigen Spannung erhalten werden muß, flieht die
Freude und übergiebt der Langenweile ihren Platz; wofern nicht die
Wichtigkeit der Gegenstände die Aufmerksamkeit hinlänglich beschäftigt.

Aber alsdenn ist die Unterhaltung kein Zeitvertreib mehr: sondern
Arbeit. Der passionirte Spieler, die Coquette, der Höfling, der um
Blicke des Fürsten buhlt, der Verliebte, der Eitle – überhaupt jeder
der mit Ansprüchen und Planen in der Gesellschaft erscheint, sucht und
findet da keinen Zeitvertreib, sondern neue Arbeit; die ihn freylich
auch zuweilen aufheitern kann, wenn sie gelingt.

Eben so würde es folglich auch seyn, wenn man sich bey dem Zeitvertreibe
einen gewissen Nutzen zur Absicht setzen wollte. Die Seele muß
alsdenn ebenfals ihre Aufmerksamkeit anhaltend darauf heften und|<3>
so bleibt es kein Zeitvertreib mehr, sondern wird Arbeit. Giebt es also Fälle
wo das Wohl der Menschen wirklich erfordert, daß die Seele ihre Triebfedern nach-
lassen und ausruhe, wie der Körper: so scheint es schädlich, und also auch unrecht durch
den Zeitvertreib, der zu dieser Absicht gewählt wird, noch einen andern Nutzen
erzielen zu wollen; er sey übrigens moralisch oder ökonomisch. Denn giebt uns
ein Zeitvertreib in der That neuen Muth, Heiterkeit und Kraft zu den Geschäften,
und ist sonst unschädlich: so ist er das, was er seyn soll, und ist nützlicher als man-
ches mühsame Geschäft: und in dieser Rücksicht sind auch die einfältigsten Kinder-
spiele und Scherze, untadelhafte Zeitvertreibe für denjenigen, dem sie diesen
Dienst leisten. Mehr zu verlangen, würde auf Plusmacherey hinauslaufen;
die in der Moral so gefährlich seyn möchte, als im Finanzwesen. Wollte man
auch annehmen, es wäre möglich, Zeitvertreibe zur Mode zu machen, die an sich nützlich
wären, ohne daß derjenige, der sich derselben bediente, sein Absehen auf den
Nutzen gerichtet hätte: so widerspricht dieses gleichfals der Natur des Zeitvertrei-
bes, die in der Freyheit der Gedankenfolge besteht; und man müßte dann fast
für jede einzelne Person eigne Erfindungen machen; weil einem dasjenige
oft die beschwerlichste Arbeit scheint, das dem andern ein bloßer Zeitver-
treib ist.

Dies war der Gang meiner Betrachtung aus der ich nun den Schluß
ziehe, daß eigentliche Zeitvertreibe nicht nützlich gemacht werden dürfen;
sondern daß die Frage anders bestimmt werden muß. – Der wahre Sinn
derselben, scheint mir folgender zu seyn.
„Wie sollen wir die vielen Stunden die wir in Gesellschaften zubringen,
ausfüllen, so daß wir keine Langeweile dabey haben, nicht in Pedanterey
verfallen, und daß sie doch nicht ganz umsonst verlohren gehen?

Diese Frage ist höchst wichtig: aber von so weitem Umfange, daß ich
mich kaum einige Grundlinien zu ihrer Beantwortung anzugeben ge-
traue:

Was zuerst in die Augen fällt, ist dieses, daß wir denen Gesellschaf-
ten, die dem Ansehen nach zum Zeitvertreibe bestimmt sind, zu viel Zeit
aufopfern. Zeitvertreib ist nur dann erlaubt und rechtmäßig, wenn unser
Tagewerk vollendet. d[as] i[st] wenn das Maaß der Geisteskräfte, die wir
täglich ohne Nachtheil der Maschine aufwenden können, erschöpft ist. Es
wäre in der That unrecht, das pflichtmäßige Tagewerkt blos auf die Arbeit
einzuschränken, die uns der Staat und die Nothdurft auflegt: sondern wer
viel vermag, muß auch viel thun. Wem die bürgerliche Gesellschaft nichts
bestimmtes zu arbeiten vorschreibt, muß destomehr an sich selbst bauen, und|<4>
selbst gewählte Pflichten übernehmen. Hat er das Maaß, das ihm
seine Kräfte und seine Lage in der Welt vo[r]schreiben, erfüllt: erst
dann ist es ihm erlaubt und Pflicht, Zeitvertreib zu suchen.

Der andre Fehler ist, daß wir bestimmte Zeiten dazu aussetzen,
und deren Beobachtung als eine Pflicht der Geselligkeit ansehen.
Zeitvertreib ist Bedürfniß, wie Hunger, Durst und Schlaf. Er sollte
nicht eher gesucht und genossen werden, bis das Gefühl der Ermü-
dung uns selbst dazu anreizte. Wie es jetzt im geselligen Leben
ist, müssen wir oft solche Stunden darauf verwenden, wo wir zur
Arbeit am aufgelegtesten wären, und finden dann keine Befrie-
digung in der Gesellschaft, weil wir uns wirklich nach Arbeit sehnen.
Über diese beyden Puncte könnten sich aber die Vernünftigsten
eines Orts nach vorgegangener Verabredung leicht hinaus setzen,
und wenn sie es nicht thun, so verdienen sie die Langeweile, die
sie in Zusammenkünften von 6 bis 7 Stunden plagt, und laden
den Zeitverlust dazu auf ihr Gewissen.

Drittens scheint mir eine Hauptursache der Leerheit und der
Langeweile, zumal in vermischten Gesellschaften, diese zu seyn,
daß es uns an einem Vereinigungspuncte der Unterhaltung,
an einem gemeinschaftlichen Interesse fehlt. In Griechenland und
Rom war dieses der Staat und ist es noch in England, Holland,
Nordamerika und andern Freystaaten,[3] die deutschen Reichsstädte[4]
nicht ausgenommen. Bey unsern Vorfahren war die Weinflasche
ein solcher Gegenstand. Bey den Herrnhutern[5] ist es der Heiland, bey
den Quäckern[6] das innere Licht, und bey der Urlspergerischen Gesell-
schaft[7] die Orthodoxie und das Berliner Gesangbuch.[8] In Paris ist es
oft die elendeste Nouvelle du jour, womit sich ein Deutscher nicht
begnügen würde. Sonst ist auch da, so wie bey uns, jede Familie,
ja jeder Einzelne, vom Ganzen abgesondert, und hat mit seiner
eigenen Noth oder mit seinem Ueberfluß, so viel zu thun, daß das
Schicksal seiner Mitbürger und des Staates selbst, blos ein Gegen-
stand seiner Neugierde ist: und dieses bekanntlich darum, weil fast
alles was man im Staate thun darf oder muß, abgemessen, und
nach einem Geldpreise angeschlagen wird; in welchem Puncte sich
die heutigen Monarchien alle zum Despotismus neigen. Hätten wir
also weniger Gesellschaft und mehr Interesse, mehr Teilnehmung
an allem was nicht nur die Stadt und das Land, sondern auch was|<5>
die Menschheit interessirt: so würden unsre Zusammenkünfte von selbst
zu wahren Zeitvertreiben, und durch die dem Gemüthe verschafte Erholung
nützlich genug werden. Aber dieser Erfolg ist blos von einer fortschrei-
tenden wahren Aufklärung aller Stände zu erwarten, und diese von
der thätigen Teilnahme menschenfreundlicher Regenten an der Bemühun-
gen der weisesten und rechtschaffensten Bürger in diesem Fache endlich –
zu hoffen.

Soll aber der alte Fuß beybehalten werden, soll uns die tyrannische
Etiquette ferner halbe Tage lang in glänzende Gefängnisse einsperren,
so weiß ich kein ander Mittel als uns darin mit unterhaltenden gesellschaft-
lichen Arbeiten zu beschäftigen, bis das Bedürfniß des Zeitvertreibes
von selbst eintritt, oder Spiele zu wählen, welche Anstrengung erfordern,
und als Leibes- oder Geistesübungen nützlich werden können. Dieses ist
freylich noch ein ungebautes Feld: aber es läßt sich anbauen.

Warum sollte man zu einer moralischen Vorlesung, zu Un-
tersuchung einer gemeinnützigen Frage, zum Anschauen eines physi-
kalischen Versuchs, zur Prüfung eines Meisterstücks der Kunst, zur
Bekanntmachung einer die Menschheit interessirenden Entdeckung oder
Begebenheit, zur Stimmgebung über einen für Staat und Land
wichtigen Vorfall, zur Vorlesung eines neu angekommenen wichtigen
Buchs, und zu andern nützlichen Gegenständen der Unterhaltung nicht
eben sowohl Gesellschaft einladen können, als auf Caffé, Thée oder fri-
sche Austern? Und sollten Geschöpfe, die auf Unsterblichkeit hoffen,
die Befriedigung des Magens nicht lieber als Nebensache betrachten,
statt daß sie jetzt den Hauptgegenstand der gewöhnlichen längern Besuche
ausmacht?

Ein Secretair, ein Lector oder andrer Hausgelehrter würde dann
freylich für die Häuser der Großen und Reichen eben so unentbehrlich
und wichtig werden, als der Koch und Conditor: es scheint aber, als wenn
die Menschheit, eben nichts dabey verlieren würde, wenn der Luxus ihr
großes Interesse, die Entwickelung aller Keime des Guten und Erhab-
nen, zum Ziele seines durch alle Classen verbreiteten Wettlaufes
setzte; als jetzt, da die meisten Bestrebungen auf sinnlichen Genuß
und eitlen Prunk gerichtet sind?

Ob aber ein solcher Ton der Gesellschaft pedantisch werden sollte,
das käme auf die Form und das Benehmen dabey an. Wir nen-
nen manches pedantisch, weil wir es zu schwer finden; und wenn Ad-
lungs Begriff von der Pedanterey,[9] daß sie übertriebene Achtsamkeit|<6>
auf Kleinigkeiten sey, der richtige ist: so erscheint diese steife
Dame heut zu Tage vielleicht seltner im Gefolge der Wissen-
schaften und Künste, als unter denjenigen gesellschaftlichen Pflich-
ten und Verhältnissen, welche auf den noch immer üblichen Anma-
ßungen der Geburt, des Standes, der Etiquette und der Mode
beruhen.

Daß solche geistige Beschäftigungen langweilig werden
dürften, werden blos diejenigen besorgen, welche keine Empfäng-
lichkeit dafür haben. Wenn man aber voraussetzen darf, daß
die Erziehung und der Unterricht sich immer mehr verbessert,
und daß hier nur von den höhern Ständen bis zum wohlhaben-
den Manufacturisten und Kaufmann die Rede ist, in welchen
beyde Geschlechter fast zu wissenschaftlich erzogen werden; so fällt
diese Besorgniß ziemlich weg. Doch würde auch der Handwerker,
Taglöhner und Bauer, der über seiner Arbeit blos körperliche
Kräfte zusetzt Erholung bey seinen Bierkruge finden, wenn
es dabey für den Geist etwas zu thun gäbe. Man weiß wie
viel Vergnügen solche Leute an popularen Schriften finden, wenn
sie einmal aufs Lesen verfallen. Für diese wären zweckmäßig
eingerichtete Geistesübungen ein wahrer Zeitvertreib.

Der Schluß aus allem diesem wird seyn, daß sich leicht
ein schöner Plan entwerfen ließe, nein man tausend neue Quel-
len nützlicher Unterhaltungen in den Gesellschaften für jeden
Stand und Alter eröfnen könnte; sobald in unsern monarchi-
schen Verfassungen die regierenden Personen sich der Sache un-
terziehen und selbst den Ton angeben wollten, um die Nachahmungs-
sucht, als die Haupttriebfeder dieser Staaten, auf einen bessern
Weg zu leiten. Die Mittel dazu wären wohl eines eignen
Entwurfes werth. Wir Privatleute können dieses thun, daß wir
geschlossene Gesellschaften errichten, die sich diese Verbesserung des
geselligen Lebens zum Ziel setzen, degleichen auch schon an eini-
gen Orten, vorzüglich in Paris, vorhanden sind, die wir aber nicht
so schnell nachahmen, als die albernsten Kleidermoden; eben weil
der Zug des Luxus und der Nachahmungssucht, von der Handwerker
Herberge an bis zur Antichambre, auf die Aussenseite der Cultur
nicht auf die wirkliche Entwicklung unsrer vielfältigen Kräfte
gerichtet ist. Der gute Ton, den wir da annähmen, würde sich|<7>
von uns weiter verbreiten, und könnte in Verbindung mit besserer
Erziehung des weiblichen Geschlechts nach und nach etwas Gutes wirken.

Ich würde mich aber nicht unterstehen, einen auf das hiesige Locale
anwendbaren detaillirteren Plan zu entwerfen, weil ich fremd bin,[10] und
meine Umstände und Geschäfte, sowohl, als meine Neigung mich
von großen Gesellschaften abhalten: so daß mir die vorhandenen
Hülfsmittel gegen die localen Fehler verborgen bleiben, welche
nicht so leicht ins Auge fallen, als diese. Freylich wäre wohl in
diesem Falle, so wie überall, Handeln besser, als denken, wün-
schen und schreiben: aber es ist auch Pflicht, sich auf dem Posten
zu beruhigen, den uns die Vorsehung oder der Staat angewiesen
hat.

Notes

  1. [Fußnote des Textes:] Ein Clubb gemeiner Bürger, der spottweise so genannt wird, im Gegensatz der Unité, die aus Honoratioribus besteht.
  2. [Fußnote des Textes:] Eine gemeine Schenke.
  3. Freystaaten] Republiken.
  4. deutsche Reichsstädte] Die deutschen Reichsstädte waren seit jeher frei und nur dem Kaiser selbst verpflichtet.
  5. Herrnhuter] Die Herrnhuter Brüdergemeinde geht auf eine Gründung von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf zurück. Die protestantische, sehr zurückgezogen lebende Gemeinde orientierte sich auch an pietistischem Gedankengut. Besonderes Augenmerk legten die Herrnhuter auf ein praktisches Christentum in der Nachfolge Jesu Christi.
  6. Quäkern] Die ‘Religiöse Gesellschaft der Freunde’, genannt Quäker, sind eine religöse Bewegung, die ihren Ursprung in der Mitte des 17. Jh. in England hat. Ursprünglich hatte die Gemeinschaft auch einmal den Namen ‘Kinder des Lichts’, auf diesen Umstand spielt Becker hier an. Zur Geschichte siehe TRE 28, S. 35-37.
  7. Urlspergerische Gesellschaft] Benannt nach Samuel Urlsberger (1685-1772). Urlsberger stand mir August Hermann Francke in freundschaftlichem Verhältnis und kümmerte sich um die in der Diaspora lebenden Protestanten im Salzbuger Land. Geheimprotestantismus. Siehe [Art]: Diaspora II. In: TRE 8, S. 717. Zur Person siehe den Sammelband Reinhard Schwarz (Hg.): Samuel Urlsperger (1685-1772): Augsburger Pietismus zwischen Aussenwirkungen und Binnenwelt. Berlin, 1996.
  8. Berliner Gesangbuch] Gemeint sein könnte das über Jahrhunderte erfolgreiche, aber nicht unumstrittene Gesangbuch von Paul Gerhardt (1607-1667): Pauli Gerhardi Geistliche Andachten, Bestehend in hundert und zwantzig Liedern Berlin 1667. Ein weiteres Werk wäre ein denkbarer Kandidat: das pietistisch gefärbte Gesangbuch von Johann Porst (1668-1728).
  9. Die Passage ist nicht allein interessant, da sie Adelungs Wörterbuch referiert, sie weist auch eine Paralelle zu den vielen essentialistisch platonisch idealistischen Ansätzen in anderen Aufsätzen auf, in denen es darum geht auf den reinen Begriff zu kommen, der den Gegenstand korrekt erfasst. Hier wird deutlicher, dass da tatsächlich Vertrauen in die Erkenntnis der Sprache gesetzt ist.
  10. Becker war seit 1784 in Gotha ansässig.