D-Q6821
- Dokument Leithandschrift: Schwedenkiste Band 14, Dokument SK14-122
- Standort: GStA PK, Freimaurer, 5.2. G 39 JL. Ernst zum Kompaß, Gotha, Nr. 112 Schwedenkiste, Reden und Gedichte, 1775-1787
- Doubletten:
- Titel: "Über den Werth der Menschen" [Rede zum 2. Stiftungstag der Loge Zu den drei Rosen, Hamburg, 1772]
- Autor: nicht identifiziert
- Datierung: Hamburg, 1772
- Erschließung: Olaf Simons
- JPG:
Kommentar
Ein Text der thematisch in den Rahmen der Illuminatenaufsätze passt, doch letztlich nicht die Schwelle zu einem abgerundeten Aufsatz nimmt.
Der Schlussabschnitt, der den Redeanlass nennt erlaubt die Lokalisierung und Datierung. Hier wird der zweite Stiftungstag der Hamburger Johannisloge Zu den drei Rosen begangen. Die „Schwesterloge“, 1770, selben Jahres in Hamburg gegründet, „Zur goldenen Kugel“ klärt den Ortsbezug.
Die Untersuchungsfrage ist als Appell an die gemeinsamen Werte genutzt. Wer der Loge angehört, befragt sich auf seinen Wert hin regelmäßig und er weiß den eigenen Wert wie den möglichen Wert des Menschen dabei anders zu definieren als der Nordamerikanische Sklavenhändler es tun würde, der Menschen in Geldbeträge umrechnet und bereit ist für einen starken Mann mehr zu bezahlen als für 100 Gellerts.
Es geht um Qualitäten des Herzens, wie mit Hagedorn in einer empfindsamen Wendung festgestellt wird. Was sich mit dem Seitenblick auf den Sklavenhandel und dem Hagedorn-Zitat um zuweilen (wie Nero) nichtswürdige Könige und zuweilen (wie Epictet) – moralisch – höchst wertvolle Sklaven anbahnt, wird im weiteren zum besonderen Merkmal der Freimaurerei und der gefeierten Loge im Besonderen: Die Freimaurerei hebt Standesunterschiede auf. Unmissverständlich will den Anwesenden erscheinen, dass die Welt in besserem Frieden leben würde, wenn sie vom Vorurteil des Standes abkäme und den Menschen nach seinem moralischen Wert allein beurteilen wollte.
Transcript
Über den Werth der Menschen
Wenn der Mensch über etwas nachzudenken Ursache hat,
so ist es über sich selbst. Zwar geschieht dieses von den
meisten, denn sinnt nicht der Ehrgeitzige nur immer darauf, wie
er einen höhern Rang und mehr Ehre erlange,
der Wollüstige, wie er seine sinnlichen Be-
gierden befriedige, und der Geitzige, [1] wie er
Schätze sammle. Das nennen sie, über sich selbst
nachdenken. Aber von einem solchen Nachdenken
kann in einer Versammlung von Freymaurern die
Rede nicht seyn. Hier kömt es nicht auf den
Reichthum oder auf die Schätze oder auf andre
äußerliche Vorzüge an, die nur dem Scheine
nach Vorzüge sind, und so wenig einen Einfluß auf
die Glückseeligkeit der Menschen haben, daß sie
selbige vielmehr hindern und öfters ganz
zerstöhren. Ganz anders ist das Nachdenken
eines vernünftigen Mannes, eines Freymaurers,
über sich selbst beschaffen. Er denkt blos
an den Zustand, in welchem sich seine Seele
befindet, wie weit er sich von den Lastern
entfernt und an Tugenden zugenommen hat.
Dieß beschäftigt ihn täglich, und giebt ihm Anlaß,
sich immer mehr von den Unvollkommenheiten loszu-
reißen und sich der Göttlichkeit seines Ursprungs
wieder zu nähern. Ich zweifle nicht daran, meine
Brüder, daß Sie sämtlich diese Prüfung ihrer selbst, welche
uns auch schon die Gesetze unsers Ordens so sehr
anempfehlen zum öftern anstellen. Freylich finden
wir nicht selten, indem wir dieses thun, vieles, das
uns außerordentlich demüthigt, und es werden wenig
Menschen seyn, welche nicht diese oder jene Stelle
aus ihrem Leben hinweg wünschen solten, bisweilen
aber finden wir doch auch Ursachen mit uns nicht|<2>
unzufrieden zu seyn, wenigstens mit einzeln
Handlungen. Doch auch der Beste wird dabey gewahr, daß
er nicht zu allen Stunden gleich edel denkt und
handelt, und daß er sehr auf seiner Hut
seyn muß, damit das moralische Gebäude, an
welchem er Jahre lang gearbeitet hat, nicht in einer
unglüklichen Minute wieder einstürze.
Diese Gedanken, meine Brüder, führen mich
auf einen sehr natürlichen Gange zu einigen Betrach-
tungen über den Werth der Menschen, welche ich
ihnen jetzo mitzutheilen die Ehre haben werde, wenn
Sie mir indes [?] ein geneigtes Gehör gönnen wollen, das
ich mir um desto sichrer verspreche, je wichtiger der
Gegenstand meiner Rede ist, wenn auch gleich die
Ausführung desselben nur unvollkommen ist.
Wenn ich von dem Werthe der Menschen spreche, so
versteht es sich von sich selbst, daß darunter kein
solcher Werth gemeint sey, nach welchem barbarische
Nationen ihm Sclaven zu schätzen pflegen, da frey-
lich ein junger starker Kerl theurer ist als hundert
Gellerts. Eben so wenig kommen hier Talente und
Gemüthsgaben in Betrachtung. Helden, Staatsmänner,
Philosophen, Gelehrte, Künstler, so groß sie immer
seyn mögen, wenn ihr Herz diesen Eigenschaften
nicht entspricht, so sind sie unsres Beyfalls ganz unwürdig.
Unter dem Werthe der Menschen verstehe ich hier blos
ihren moralischen Werth; die übrigen Eigenschaften
derselben mögen beschaffen wie sie wollen.
Nicht Erbrecht noch Geburt, das Herz macht
groß und klein,
Ein König könte Sclav (sollt oft
Sclav) ein Sclave König seyn.[2]
Hier kömt alles aufs Herz an; das Herz, das heischen [?]
Gesinnungen und Thaten, allein macht den wahren
Werth der Menschen aus, und nach selbigem beurtheilen und schätzen
wir alle und jede[n].|<3>
Der bekannte grose Philosoph, der in seinen selt-
samen Meinungen nur zu oft recht hat, giebt den Menschen
schuld, daß sie nichts in seiner natürlichen Beschaffenheit lassen, sondern alles verderbten.[3] Was aber haben
sie wohl mehr verderbt als sich selbst; dafür haben
sie eine Menge falscher Begriffe und Vorurtheile ein-
geführt, daß eine Erfahrung von
vielen Jahren auch den aufmerksamsten und scharf-
sinnisgsten Beobachter kaum die Helfte davon ent-
deken und vermeiden lehrt. Wohin ich mein Auge werfe,
herrscht Thorheit oder Betrug, und
um kein Sonderling zu scheinen, muß man sich der Welt wenigstens
gleich stellen. Nur zu oft wird der wahre Werth eines
Menschen, dem es an diesem oder jenem Äusserlichen
Scheine fehlt, verkannt, und Verdienste bey dem einen
übersehen, von welchen ein andrer kaum die Helfte
besitzt, und sich damit die Verehrung
eines ganzen Königreichs zu zuziehen weiß. Dieser
wird um eine[r] Handlung willen in den Kerker
geworfen, durch welche ein andrer auf den
Gipfel der Hoheit steigt. Unsinnige Sterbliche, wann
werdet ihr Wahrheit vom Betruge, Schein vom Wesen
und Größe vom Dunste unterscheiden lernen! Doch
es ist schwer, durch alle die labyrinthischen Krümmen
hindurch zu schauen, zwischen welche sich der betrügerische
Mensch verbirgt. Hinter der Larve der Demuth wohnt
Hochmuth, Dienstfertigkeit ist Eigennutz,
Freundschaft Haß, Höflichkeit Verachtung, und es
giebt kein Laster, das nicht eine Tugend oder gute
Eigenschaft hätte, deren Namen und Gewand es zu
erborgen pflegt. Es gehört ein sehr aufmercksamer
Beobachter dazu, dieses allezeit von jenem zu unter-
scheiden. Wie glücklich wären wir, wenn wir nach
dem Wunsche jenes alten Weltweisen Fenster in die
Brust machen, das ist alle Verstellung aus dem
menschlichen Herzen verbannen könten. Ich hoffe we-
nigstens, daß niemand von uns etwas dagegen ein-
zuwenden haben dürfte.|<4>
Wenn es wahr ist, daß noch kein Mensch seine
Talente und Fähigkeiten so hoch getrieben
hat, als er sie hätte treiben können; so ist
auch wenigstens eben so gewiß, daß noch
niemand seinen moralischen Werth zu einer
solchen Höhe gebracht, als er denselben
hätte bringen können. Zu jenem sind nur
wenig Menschen, nemlich solche, die vor andern
vorzügliche Gaben besitzen, fähig; diese
könten wir alle, denn der ehrliche der rechtschaffene Mann
ist auch ohne Talent schätzbar, und es ist
mehr ein witziger Einfall eines un-
serer besten Schriftsteller, wenn er sagt,
man wäre sehr wenig, wenn man weiter
nichts als ein ehrlicher Mann wäre[4] als daß er’s im Ernst hätte meinen sollen. In
Absicht auf die große Welt mag sein Aus-
spruch gelten, aber in Ansehung der Mora-
lität ist dieses der erste der vornehmste Character; ein
Character, den man nothwendig haben muß
um in unsere Gesellschaften den Eingang
zu erhalten. Der großmüthige, der freygiebige, der
Mann, mit einem Worte der Tugend hat
kann dieser nicht in der That seyn, wenn ihm
jenes fehlt, so glänzend auch seine andern
Eigenschaften seyn mögen.
Bey der Welt kömt vieles darauf
an, daß man, um hochgeschätzt zu werden
selbst etwas aus sich mache. Es gehört
Grimasse dazu, sich in ein gewisses An-
sehen zu setzen, und wer diese nicht machen
kann, spielt gemeiniglich eine sehr schlechte
Rolle auf diesem Schauplatze. Sehen Sie
wohin Sie wollen, und Sie werden finden
daß die Sache sich wirklich so verhält.
Alles dieses
glänzende Wesen aber, diese gierige Minen
womit der große [Name#] auf geringere herab-
lächelt, diese andächtige Stellung, womit
uns Philander von seiner Frömmigkeit über-
zeugen will, Stephans Eifer, womit er
uns zu dienen sucht, sind blos ein Firnis
hinter welchem wir gerade das
Gegentheil von dem was sie seyn wollen, erblicken
würden, wenn wir Gelegenheit fänden, ihnen
diesen Firniß abzuziehen. Unsre Gesetzbücher bedienen sich eines vor-
treflichen Sinnbilds, wenn sie von den
Fehlern des menschlichen Herzens reden;
sie nennen sie Risse und Lücken und
haben uns diese Mauerkelle gegeben,
selbige damit zu bewerfen
und auszufüllen
Manche Münze hat ein schönes Gepräge
und den Schein des edelsten Metalls; al-
lein der Probier und der Schmelztiegel
geben uns einen weit geringern|<5>
Gehalt zu erkennen, als wir gedacht hätten
Der war gewiß kein flüchtiger Beobachter von
dem Werthe der Menschen, welcher sagte,
die meisten verdienten nicht, daß man sie mehr als
einmal sähe,[5] und es würde schwer fallen
ihm das Gegentheil zu beweisen.
Ich glaube nun so viel von dem mora-
lischen Werth der Menschen gesagt zu haben,
als jeder von uns zur Prüfung seiner Selbst
und andre brauchen dürfte. Denn dieser
eine Werth ist es, wie Sie wissen, worauf
bey der Maurerey am meisten gesehn wird.
Nach demselben beurtheilen wir unsere
Mitglieder, und darum ist es geschehen,
daß unser Orden den Unterschied der Stän-
de aufgehoben hat, welcher so vieles Un-
heil in der Welt anrichtet. Man
nenne mir ein Laster, das nicht seinen
Ursprung wenigstens zum Theil demselben
zu dancken hätte. Wer würde etwas vom
Neid, dem Stolz und von der Habsucht
wissen, wenn nicht die ursprüngliche Gleich-
heit aufgehoben worden wäre. Diese niedrigen,
unnatürlichen Laster, welche den grösten
Monarchen unter seinen geringsten Unter-
than herabsetzen! Doch was Monarchen!
Blos jene Laster haben sie
uns nothwendig gemacht, wenn sie anders
nothwendig sind, und wenn man nicht in
einem Staate, wo jeder einander gleich
wäre, glücklicher zu leben vermag. Doch
diese Untersuchung würde mich zu weit
führen. – Aber trotz diesem Unterschiede
der Stände wohnen auch in Hütten Edle
und in Pallästen Armseelige. –
Schon durch diese Gleichheit ist die Frey-
maurerey, wenn sie auch sonst nichts gutes
hätte, die vortreflichste aller Gesellschaften.
Wie glücklich sind wir, daß wir Freymau-
rer sind. Das heist, Leute, welche die
Vorurtheile der Welt von Rang, Ehre,
Reichthum, abgelegt haben, und jeden
blos nach seinem moralischen Preise schäzen.
Eine Wahrheit, die uns zwar schon das
Recht der Vernunft lehrt, die aber von
allen ohne Ausnahmen verkannt, und blos|<6>
noch von den Freymaurern ausgeübt wird. Wie
glücklich würden die Weltbürger seyn, wenn
sie diesen Grundsatz annähmen, und wie nütz[lich]
würde auch aus dieser Betrachtung die Ausbrei-
tung, und wenn ich so sagen darf, die Alge-
meinheit der Freymaurerey werden! Doch
dieses ist, wie vieles Gute in der Welt mehr
zu wünschen als zu hoffen.
Die Feyer des heutigen Tages, meine Brüder, es ist
wie Ihnen bekannt ist der Stiftungstag der gerechten und vollkommenen
Loge zu den drey Rosen,[6] setzt mein Herz in
eine freudige Bewegung, die, ich bin überzeugt
alle diejenigen, welche an dem Wohl der Maurerey überh[aupt]
und insbesondre an dem Flor der Rosenloge
theil nehmen, gleich starck empfinden. Es sind
nicht länger als 2 Jahre, da diese Loge unter
dem Beystande des göttlichen Baumeisters er-
richtet ward, und doch kam sie sie in Ansehung auf
Menge und Würdigkeit ihrer Mitglieder sich mit
den ältesten Logen messen. Wir zehlen an
Mitgliedern über 60, von denen aber verschiedene
abwesend sind, und unsere ge[ehr-]
teste [?] Schwesterloge zur goldenen Kugel[7] hat eben
fals ihren Anfang von uns genommen. Etwas
zum Lobe unsrer Mitglieder zu sagen, verbietet
mir ihre Bescheidenheit. Es ist genug, wenn
ich vor ihnen sämtlich behaupte, daß sie
gute Maurer sind. Lassen Sie uns, meine
theuersten Brüder, den heutigen Tag mit
dankvollen Empfindungen gegen unseren [?]
obersten Baumeister begehen, und dann uns
unter einander und über einander freuen, daß wir Maurer sind
und den algütigen Vater dieses Alls bitten
daß er uns auch künftig unter seinen Schutz
nehme, und sich unsre Arbeiten wohlge-
fallen lasse.
Anmerkungen
- ↑ Die Einteilung der menschlichen Antriebe nach den drei Hauptlastern Wollust, Ehrgeiz und Geldgeiz wurde Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum insbesondere mit den Schematisierungen durch Christian Thomasius gängig – siehe die Falttafel Von der Kunst vernünfftig und tugendhafft zu lieben (Halle: Christoph Salfelds Wittwe und Erben, 51710), Bl.a2r-a7v. Rekapitulationen des Schemas laufen indes bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Gottlieb Wilhelm Rabener liefert ene solche in seinem „Sendschreiben von der Zuläßigkeit der Satire“ in seinen Satiren (Leipzig: Verlag der Dyckischen Buchhandlung, 1764) Kap. 13.
- ↑ Christian Fürchtegott Gellert geb. 4. Juli 1715 in Hainichen, gest. 13. Dezember 1769 in Leipzig, Dichter und Moralphilosoph mit, Mitte des 18. Jahrhunderts immenser Autorität. Hielt ab 1745 in Leipzig Vorlesungen über Poesie, Beredsamkeit und Moral, wurde 1751 zum außerordentlichen Professor für Philosophie ernannt, ein Mann eher schmächtiger Statur und angegriffener Gesundheit, auf dessen Hypochondrie hier auch angespielt sein könnte.
- ↑ Die These dass die natürliche Beschaffenheit gut ist, steht in Kontrast zur religiös christlichen Option sie für Verworfen, von Erbsünde gezeichnet zu brandmarken. Der Philosoph der befindet, dass der Mensch alles verderbe, in der er von der Natur abgehe, ist hier nicht klarer benannt. Shaftesbury argumentierte in diese Richtung. Rousseau tat es mit dem ihm zugeschriebenen „Zurück zur Natur“ härter.
- ↑ „O man ist verzweifelt wenig,/ wenn man weiter nichts ist, als ehrlich“ – Gotthold Ephraim Lessing, Minna von Barnhelm (1763).
- ↑ Unklar, wem das bon mot zugeordnet werden soll
- ↑ Logen „Zu den Drei Rosen“ wurden in Jena 1762 und Hamburg 1770 gegründet. Die folgende Referenz auf die „Schwesterloge zur Goldenen Kugel“ macht Hamburg und damit das Jahr 1772 wahrscheinlich.
- ↑ Wie die Hamburger Loge „Zu den drei Rosen“ eine Standesgrenzen nivellierende Johannisloge, selben Jahres wie die Schwester, 1770 gegründet.