D-Q175805
- Metadata: Item:Q175805
- Transcript: Hermann Schüttler
- Commentary: Isabel Heide (talk) 14:30, 9 November 2020 (CET)
- Technical realisation: Isabel Heide (talk) 14:42, 12 October 2020 (CEST)
Commentary
Von Gemmingen beschreibt in der dritten Person ohne Angabe von Orten, Personen oder Jahreszahlen, die Dinge, die seiner Meinung nach seinen Charakter prägten.
Das wären kurze Abrisse seiner Kindheit und Jugend, der Beziehung zu seinen Eltern, seiner Schulzeit und Erziehung sowie seiner Leidenschaften und Beziehungen zu Frauen.
Im zweiten Teil deutet er vor allem Probleme ab dem Erwachsenenalter mit seinem Eintritt in das Berufsleben und in seinem sozialen Umfeld an, durch die er diversen Verleumdungen zum Opfer
gefallen sein solle. Den Abschluss bilden die Reflektion seiner Gefühle während dieser Zeit, seine jetzigen Verhältnisse sowie die kurze Nennung einiger Charakterschwächen und die Entwicklung
seiner Zugehörigkeit zu mehreren Religionen im Laufe seines Lebens.
Transcript
Lebenslauf des Antonins [1]
Da nicht die Begebenheiten, welche der Mensch erlebt hat, die eigentliche Geschichte seines Selbsts ausmachen, sondern meist zufällig, meistens durch Umstände so und nicht anderst bestimmt sind: sondern das, was in seiner Seele vorgieng, wie sie sich nach und nach entwickelte, bald diesen bald jenen Irrweg einschlug, und die Revolutionen, durch die sie das wurde, was sie ist – nur das würde die wahre Geschichte eines Menschen ausmachen, wenn man alles genau im Zusammenhang wüßte: selbst fängt man so spät an sich zu beobachten, und andern entgeht so mancher wesentlicher Zug. Unterdessen sind auch schon Bruchstücke, auch einzelne offenherzige Erzählung[en] zur Kenntniß eines Menschen hinlänglich, ohne daß man weder Ort noch Personen zu nennen braucht. Und in diesem Gesichtspunkt ist auch diese Erzählung.
Von Eltern gebohren, die aus Familienabsichten ihre Ehe Anfangs nicht bekannt machen wollten, wurde Antonin, ohne sie als solche zu kennen, erzogen. Aus Briefen, welche seine Aufseher den Eltern schrieben, erhellt, daß er in den ersten zehn Jahren seines Lebens gelehrig und gutmüthig war, aber einen starken Hang | zur Lüge hatte; und dieser Hang blieb ihm lange, ist vielleicht bis jetzt noch nicht entwurzelt, nur durch Vernunft und Ueberlegung, und durch das Gefühl des damit verbundenen Kleinmuths unterdrückt.
In jenen ersten zehn Jahren erhielt er eine französische Erziehung, nach dem ganzen Umfang der Bedeutung, man gab ihm eine encyglopedische Flächenkenntniß, und er wurde, wie alle franzmannische Zöglinge, ein Fat suffisant.
Darauf kam er zu seinen Eltern; das großherrische Leben, sich [als] der einzige Erbe eines Hauses zu sehen, umringt von Bedienten, das alles zerstreute ihn im Anfang sehr, verursachte in seinem Geiste eine Pause von beynahe zwey Jahren.
Nun aber blüht eine beßre Epoche auf; er bekam einen Hofmeister, welcher das Erziehungswesen im wahren Gesichtspunkt nahm; dieser suchte dem flatterhaften Geist durch Studium der Mathematik, Gründlichkeit und fleissiges Verdauen der Klassiker wahren Schwung zu geben. Diesem Manne verdankt Antonin den Keim jedes Guten, das je bey ihm aufblühte. Einer der vorzüglichsten Erziehungsgrundsätze dieses Mannes scheint gewesen zu seyn, dem Geiste so wenig Fesseln, als möglich, anzulegen. Er scheint den Werth der Freyheit gekannt zu haben, und besser | gedeihte würklich die junge Pflanze durch diese Behandlung. Nie schien Antonin von seinem Mentor zu lernen; sie arbeiteten miteinander: sklavische Abmessungen der Stunden und Arbeiten kannten sie nicht. Der ganze Tag gehörte ihnen, sie benutzten ihn miteinander und theilten ihn zwischen Beschäftigung und Freude. Darum war nicht weniger bestimmt, was an jedem Tag geschehen mußte: aber diese Bestimmung war ein Gesetz, das gemeinschaftlich der Lehrer mit seinem Zögling sich auflegte: nicht selten geschah es, daß der Zögling sich dadurch mehr aufbürdete als der andre gewagt haben würde, und um desto vergnügter ein Gesetz erfüllte, das er selbst gemacht hatte. Dieser Mann, das Beyspiel der Eltern, und dann ein Freund, der, ohnerachtet der Verschiedenheit der Jahre, es würklich war, und den er sich zum Muster nahm, bestimmten beym Antonin den Hang zu Wissenschaften und Thätigkeit, dem er seitdem immer getreu blieb, troz allen dazwischen kommenden Begebenheiten.
Es war in seinem dreyzehnten Jahre, daß er die ersten nicht zweydeuti|gen Gefühle der Liebe spührte: der Gegenstand war eine junge Wittwe, seine Verwandtinn. Nie war wohl etwas schwärmerischer als diese Leidenschaft; aber die Gefälligkeit des Gegenstandes, und die Klugheit von Antonins Eltern und Lehrer machten, daß diese Leidenschaft keinen Widerstand fand, und so, statt Hinderniß der Beschäftigung zu werden, sie beförderte, und neuer Antrieb wurde.
In diesem Tone wurde die Erziehung fortgesetzt, deren Charakteristisches immer Freyheit war, und dieses mag die Ursache seyn, warum Antonin glücklich genug war, nie seine Freyheit zu mißbrauchen, und sogar in Geschäften, auch in politischen Verhältnissen den Werth der Freyheit zu kennen, ohne zu überspannte Begriffe davon zu haben.
Zwischen Liebe und Arbeit brachte er, unter den Augen seiner Eltern, mit denen er, wie mit Freunden lebte, seine Jugendjahre so glücklich zu, ohne irgend eine, auch nur eingebildete Widerwärtigkeit. Wer neunzehn Jahre vollkommen glücklich gelebt hat, darf nicht murren, wenn die kommende ihn zuweilen erinnern, daß es nicht immer so seyn könne. Mit neunzehn Jahren trat An|tonin, der unterdessen seine Mutter verlohren hatte, – die erste Widerwärtigkeit seines Lebens in ein Amt. Das Finanz und Justizfach wurde seine Bestimmung; er arbeitete mit vielem Eifer, und nicht ohne Beyfall. Der erste Eindruck den man macht, entscheidet viel. Antonin war darinn sehr glücklich: aber eben dieses macht ihm ein ganzes Heer kleiner Menschen zu Feinden. Ein Fremder, der durch die Vortheile der Erziheung etwas voraus hatte, zog sich eine stillschweigende Verschwörung der Einheimischen zu, und dieses verbunden mit seiner Unerfahrenheit mit zu übertriebenem Eifer, mit der Idealisirsucht des Guten zogen ihm manche unangenehme Begebenheit zu. Dazu kam, daß die erste Schaubühne, auf welcher er debutirte, eine Staatsverfassung ohne Grundsätze war; wo alles in Unordnung, vom Fürsten bis zum Untersten, jeder seinen augenblicklichen Privatnutzen suchte, | und jeder, dem diese Grundsätze nicht eigen waren, kluger Weise unthätig gemacht wurde. In diesem Falle befand sich nun bald Antonin, dessen jugendliches Feuer ihn zum allzu hitzigen Verfechter desjenigen machte, was er für gut hielt, und der noch nicht wußte, wie schwer man das Gutseynwollen verzeihe.
Unterdessen war aber Antonin in eine Gesellschaft gerathen, voll Ueppigkeit und Schwelgerey; die viel Aufwand machte, und bey der äußerlicher Prunk Verdienst war. Antonin machte größtentheils alles mit; er gieng soweit, daß er selbst einige Monate lang eine Mätresse hatte; und was dabey um desto unverzeihlicher war, nicht aus Neigung zur Schwelgerey, bloß weil es der herrschende Ton war. Es ist unbegreiflich wie sich dieses mit dem Geiste der Wissenschaften, mit der Liebe zu Beschäftigungen, die er immer beybehielt, verbinden ließ. Doch glaubt er diesen zuschreiben zu müssen, wann diese Schwelgerey nicht lang | dauerte.
Ein andres Uebel, das schädlichere Folgen hatte, war Mangel an Ordnung in der Haushaltung, nicht als hätte er je für seine Person viel Aufwand gemacht; aber er war freygebig, theils aus Gutmüthigkeit, theils aus stolzer Ehrsucht, und dabey ein vollkommenes Vertrauen in die Ehrlichkeit seiner Leute, die ihn meistens betrogen. Dadurch entstand Zerrüttung in der Haushaltung, die durch seine Sorglosigkeit er erst spat erfuhr, und ihm viel unangenehme Augenblicke zuzog; ihn vielleicht auf immer würde unglücklich gemacht haben, wenn die Dazwischenkunft eines Freundes und die Liebe seines Vaters ihn nicht gerettet hätten.
Dieser Umstand und einer, der so eben soll erzählt werden, machte eine gänzliche Veränderung im Geiste des Antonins. Die Begebenheit ist folgende. In der Gesellschaft, in der er lebte, war eine Frau voller Grazien und Koketterie. Viele junge Leute bewarben sich um ihre Gunst, unter denen auch Antonin | war: noch mehr, er war der begünstigtste. Dieß erweckte eine neue Art des Neids gegen ihn. Als er einst wegen Geschäften verreist war, suchten einige den Umstand seiner zerrütteten Haushaltung zu benutzen, und gaben einer ganzen Kette von Verleumdungen einigen Schein des Anstrichs; machten so ein schwarzes Gewebe, das Antoninen, in dessen Seele nie der geringste Argwohn war, bey seiner Rückkunft in die größte Erstaunung setzte. Zu stolz, sich wegen Dingen zu entschuldigen, die weit unter ihm waren, begegnet er allen mit Verachtung, und erbitterte [sie] nur noch mehr. Die Sache legte sich von selbst nach und nach: aber wie schon gesagt worden, in Antonins Seele entstand eine große Veränderung. Er sahe sich von Leuten verleumdet und verlassen, die er nur mit Freundschaft, nur mit Liebe behandelt hatte. Unter diesen war einer, dem er in dringender Noth einige tausend Gulden geliehen hatte, die er ihm nicht wieder bezahlte, und doch derjenige war, der über Antonins Haushaltszerrüttung | den größten Lärmen machte. Ein anderer hatte unter der Larve der Freundschaft das unheilbarste Gift verbreitet.
Diese Epoche hätte den Antonin zum Menschenhasser machen können, hätte sein guter Genius ihn nicht daran gehindert. Allein bey Antonin, der in allen wesentlichen Dingen immer glücklich war, nahm es eine andre Wendung. Er fieng an einzusehen, daß des Menschen Glück und Würde nur in ihm selbst liege. Da empfand er den ganzen Vortheil einer guten Erziehung; da nahm er mit ganzer Seele seine Zuflucht zu den Lehren der Alten, und ward (selten hält der Mensch die Mittelstrasse) [ein] vielleicht zu übertriebener Anhänger der stoischen Philosophie, die den Fehler einer zu großen Unbiegsamkeit des Geists und zu viel Sorglosigkeit wegen des Urtheils Anderer bey ihm erzeugte. Bey dieser Gelegenheit hatte Antonin dem Rousseau, dessen Geist er ganz studirte, die Wiederfindung der Glückseeligkeit zu danken; zu danken, wenn er den Flitterprunk nach seinem wahren Werth zu schätzen lernte; | und wenn Wahrheitsliebe und einfaches Wesen sich seiner Seele bemeisterten.
Zu dieser Zeit nahm Antonin eine Gattinn, in deren Wahl er wieder äußerst glücklich war, die so ganz des schlichten einfachen Sinnes, dazu gebohren war, häußliche Glückseeligkeit zu gründen.
Aber die bürgerlichen Verhältnisse, in denen er stand, die aber schon gerügt worden sind, störten seine Zufriedenheit, er machte sich davon los, mit dem festen Entschluß jedoch, sein Leben nicht unthätig zuzubringen, und die Gelegenheiten aufzusuchen, wo er ein nützlicher, thätiger Bürger werden könnte.
Uebrigens sind Starrsinn, Stolz, zu weiter Umfang der Entwürfe, und öfters auffahrende Hitze die Fehler, deren Antonin sich bewußt ist, und mit denen er nach Kräften kämpft.
Ein sonderbarer Umstand aus Antonins Leben muß noch gerügt werden. In den ersten zehn Jahren wurde er in den Grundsätzen der Reformirten, dann in den[en] | der lutherischen Religion erzogen: endlich bekannte er sich zur katholischen, wie er zu reifern Jahren kam. Er wählte diese, weil er sie für die älteste hielt; den Sinn, den man dazu bringt, als die Hauptsache ansahe, und dadurch seinen Wirkungskreiß zu erweitern glaubte. |
Notes
- ↑ daneben von Schröders Hand Otto von Gemmingen.