D-Q5064

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Transcript

Andrus d. 1. Meher 1157.

Sie bringen mir, E.O., durch Ihre erinnerungen im letzten Schreiben den
wichtigen Satz ins gedächtniß: virtus est vitium nosse et sapientia prima
den ich immer mit innigster überzeugung der wahrheit in Horaz las'.
Durch einen solchen gedanken, u. Horaz hat deren viele, sehnt mich der
dichter, der nach dem geschmack seines zeitalters so oft (nach unsern be-
griffen) die sittsamkeit beleidigt, wieder mit sich aus. Horaz, durch
seine verhältnisse in Rom mit welt- u. menschenkenntnissen bereichert,
mußte einsehen, wie er es selbst sagt, wie viel eitelkeit in allen menschli-
chen bestreben, wünschen, leidenschaften u. handlungen sey, mußte die
gründe der menschlichen verirrungen erforschen, daß alle, morali-
sche u. physische, fehltritte aus unwissenheit, aus mangel an
kenntniß der mittel, zu wahrer vollkommenheit u. glückseligkeit zu gelangen,
entspringen, daß der weißheit anfang, zu wissen, daß man gefehlt
hat. Berichtigung unsrer erkenntniß ist schon selbst besserung.
Wie fruchtbar an folgen ist dieser eine Satz, wie wichtig macht
er uns das: Γγώϑε ϐευτόν

Warlich[1] ist gesund u. tritt über 14 tage sein amt an. Ich sagte
ihm, daß er sich noch gedulden müsse, welcher sentenz er sich denn
willig unterwarf. Meine lieben br. verlassen mich nun. Ph.
Melanchth.[2] ist bereits abgegangen, u. Gronov[3] ist im begriff abzu-
gehen. Diesen verlier ich sehr ungern. Sein umgang u. beyspiel
war mir so lehrreich zu bildung meines verstandes, geschmacks|<2>
und herzens! Er hat so viele herrliche anlagen, um die ich ihn be-
neiden würde, wenn ich nicht neid verabscheute. Hätte er ein wenig
mehr ausdauernde kraft in seinen unternehmungen u. festigkeit in
seinen grundsätzen, er würde einst sehr viel gutes stiften!
Dieser mangel an consistenz macht, daß er gegen andre bisweilen
zu nachgiebig, zu wankelmüthig, zu unbeständig ist, daß er bis-
weilen von der geraden linie sich etwas zu entfernen scheint,
die er freilich nie - dafür bürgt mir sein edler sinn u. sein
schuldloses herz - aus dem gesicht verlieren wird.

Mit vollkommenster hochachtung habe die ehre mich zu nennen
Ihren

gehorsamsten diener
Justus Lipsius

Notes

  1. Anton Rudolph Warlich Item:Q1292
  2. Johann Christoph Friedrich Gerlach Item:Q392
  3. Friedrich Schlichtegroll Item:Q1035