D-Q6621

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Commentary

Transcript


Über das 6te Kapitel des III. Buchs des
Cicero, von den Pflichten

                        %

Immer ist es eines von den schweren Problemen für die
Weltweisen gewesen, zu entscheiden, was in Kollisions-
fällen die Rechte der Natur erlauben oder verbieten.
Der eigene Character der Vertheidiger der verschiedenen Mei
nungen scheint auf ihre Entscheidungen nicht geringen
Einfluß gehabt zu haben. Der eine von sanfter u[nd] mit
leidiger Deutungsart, der das Leiden seiner Mitmen
schen mehr als sein eignes fühlt, u[nd] den Werth seines
Lebens vielleicht zu gering schäzt, hält es für recht,
lieber alles auf zu opfern, lieber alles zu dulten
und sich selbst nicht zu schonen, als einen Eingrif in
die Rechte seines unschuldigen Nebenmenschen zu thun.
Der andere, eben so scharf denkend, nur von weniger gütli-
cher Gesinnung, kan nicht begreifen, wie die Wahrheit
des Sazes zu verkennen sei, daß alle Liebe von uns
selbst ihren Anfang nehme u[nd] daß dieser Liebe alles
andre nachstehe. _ Als Beispiel von einem Philosophen,
der die erstere Meinung begünstigt, dient uns Cicero.
Erst trägt er den Grundsaz vor, daß das erste u[nd] allgem
meinste Gesez der Natur dieses sei, niemanden zu
beleidigen, niemanden in seinen Rechten zu krän-
ken und zu stören. ,,Wo dieses Gesez nicht anerkannt
wird, sagt er, da muß jeder Staat sinken, ja das Band
der ganzen menschlichen Gesellschaft wird dadurch ge
trennt; da fällt Wohlthätigkeit, Freigegibkeit, Gü-
te, Gerechtigkeit weg, u[nd] jede Verbindung, die Men-
schen unter einander gemacht haben. ,, Wer wird
unsern Weisen bis hierher nicht recht geben; er
redet blos in unsrer aller Namen; denn der Saz:
neminem laede, auf den alles, was er sagt, sich
beziehen läßt, ist der, den jede Nation, die gebildeste
u[nd] der rohste, bekennt, u[nd] von jeher als wahr angenommen |<2>
hat. Aber nun scheint er auf einen Abweg zu kommen,
auf dem er sodann zu andern Trugschlüßen fortgeht
,,Das festeste Band der Gesellschaft, führt er fort, ist die
Meinung, daß es ein größeres Vergehen gegen die
Geseze der Natur sei, wenn ein Mensch dem andern
seines eignen Vortheils wegen etwas entzieht, als
lieber alles Leides des Körpers u[nd] der Seele dul-
tet.“ Da dies Worte einer strengen Tugend, die
nichts von eigenliebe weis, zu seyn scheinen, so ist
man anfänglich nur allzu geneigt ihnen beizustim-
men. Aber wie es mich dünkt, so kömt es hier auf eine
genauere Distinktion an, die ich mir in einen be
stimten fall so denke: wenn ich darbe, wenn ich
meinen Körper nur aüserst nothdürftig ernäh-
ren muß, aber dennoch meine Gesundheit und
mein Leben unter dieser Dürftigkeit nach u[nd] lei
det, so ist es Pflicht für mich, das zu tragen, durch
meine Arbeit meinen Körper so lange zu nähren
und zu unterhalten, als meine Kräfte und die
andern Umstände es mir erlauben. Es darf
mir nicht einfallen, daß meine Dürftigkeit und
Armuth mir wohl ein Recht geben, von dem schwelge-
rischen Überfluß meines Nachbarn etwas zu neh-
men, um mir größere Bequemlichkeit zu ver-
schafen. Genug, es bleibt mir noch so viel übrig,
die nothwendigsten Bedürfniße meines Körpers
zu befriedigen. Gesezt aber, der Fall tritt
ein, daß mir auch die dringendsten Nothwen
digkeiten versagt werden, daß mein Körper
vom Hunger bis aufs Äuserste gequält, nichts
als einen baldigen Tod unvermeidlich vor sich
sieht, daß mir die Hartherzigkeit derer die ich bit-
te, jede Lindrung meiner Schmerzen und die
Abwendung des bevorstehenden Todes abschlüge:
soll ich da lieber ruhtig den Tod erwarten, als
jemanden etwas von dem Seinigen nehmen? |<3>
Soll ich da wohl mit Cicero sagen: Mein Leben ist mir
nicht nüzlicher, als das Gesez u[nd] die Bestimmung mei
ner Seele, niemanden meines Vortheils wegen zu
verletzen?

Dürften wir denn wohl nicht annehmen, daß hier
ein gleicher Fall, wie die Nothwehre einträte; u[nd]
wenn dies ist, könnte uns diese Gleichheit nicht vielleicht
eine sichere Entscheidung an die Hand geben?
Um hierüber urtheilen zu können, deute ich mir einen
ganz bestimmten Fall. Ein aAmer, vom Hunger
bis zum Tod gepeinigt, u[nd] nicht im Stande, noch
den nächsten Ort zu erreichen, liegt auf der Straße.
Er sieht, ein Vorbeireisender hat die Mittel in den
Händen, den Tod von ihm abzuwehren; aber auf
sein flehentlichstes Bitten, versagt der Unbarm-
herzige ihm dennoch das einzige Mittel zur
Rettung seines Lebens.

Niemand wird leugnen, daß, wenn einer mein
Leben geradezu angreift, ich das unstreitige Recht habe,
es zu vertheidigen, selbst, wenn es nicht anders mög-
lich ist, durch Tödung des Angreifenden. Hier nun
ist Hunger der Gegner, der mich, wenn ich in diesem
Fall bin angreift, wider den ich zu kämpfen und
mein Leben zu vertheidigen habe. Ich sehe, mein
Mitmensch hat die Mittel in den Händen, mich
von diesem Feind, den ich bald werde unterlie-
gen müßen, zu befreien. Er ist es, der meinen
Tod will, wenn er seine Mittel nicht anwen
det u[nd] ihn jezt von mir anzuwenden sucht.
Er schlägt mir diese gebetne Hülfe ab; er will
das Leben nicht erhalten, das jezt blos in seiner
Hand steht. Er will, daß ich es verliere; ich kan
ihn also als den ansehen, der es angreift, und
nun — welches Gesez kan mir verbieten, dies Le-
ben zu vertheidigen, zu erhalten, ihn abzuwehren, |<4>
daß er mir es nicht raube, oder in diesem bestimmten
Fall, ihm so viel von seinem Brod zu nehmen, mit
List oder Gewalt, als nöthig ist, um selbst dem
Tod zu entgehen? Diese lezte Bestimmung ist
freilich nothwendig und von groser Wichtigkeit.
Das Naturgesez erlaubt nur so viel dem Andren
von dem Seinigen zu nehmen, als eben hinläng
lich ist, mich vor jezt aus der Todesgefahr zu be
freien.

Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, werden
wir also die Frage, die Cicero aufwirft, bejahen
müßen, da er sie verneint. ,,Wenn ein Wei
ser, fragt er, vom Hunger gepeinigt wird, wird
er da wohl einem andern Menschen etwas von
seiner Speise nehmen, einem andern, der so zu
nichts nüzlich und brauchbar ist? Nein, antwor
tet er; denn das Leben ist mir nicht nüzlicher
als jene Gemüthsneigung, vermöge deren ich nie-
manden meines Vortheils wegen, verletzen darf.

Ohnmöglich können wir den guten Weisen so ganz
kalt den Hungertod sterben sehen. Wir würden
hier antworten: Ja; er darf u[nd] muß jenem
von seiner Speise nehmen, u[nd] selbst, wenn der
andere der nüzlichste und verdienteste Mann
wäre. Bei der Nothwehr, die wir hier statu-
irt haben, fällt dieser Unterschied ganz weg
da betrachten wir uns nicht als Bürger ei-
nes Staats, als Höhere u[nd] Niedere; kurz jedes
Verhältnis wird aufgehoben; da sind wir blos
Menschen in dem absolutesten Zustand; jeder
vor sich und wider jeden, der ihm [mit?] Unter
gang droht. Ein Ugolino[1] also, unschuldig von
einem Tyrannen zum Hungertod verdamt,
eben mit seinen vortreflichen Söhnen im Augen |<5>
blik des Ersterbens, des schrecklichsten Ersterbens, das
man auf der Erde sehen kan, sollte wider das Recht
der Natur handeln, wenn er davon einem, der mit
Speise in sein Gefängnis träte, und Wütrich genug
wäre, auf das lezte Bitten dem Armen nichts zu
reichen, der sollte Unrecht handeln, wenn er Spei-
se von ihm erzwänge? Nein, armer Ugolino,
dich rechtfertigen die Gesetze der Natur, dich und
jeden, der, wenn er kein anderes Mittel mehr
für sich übrig sieht, mit List oder Gewalt dem
andern von seinem Überfluß so viel weg-
nimt, als er nöthig hat, um den Tod von sich
abzuwehren. So sehr verschieden diese
Antwort auch von der des Cicero ausfällt, so
folgt sie doch aus den vorher angenommenen Grund
säzen, wo wir diesen Fall unter die Fülle der Noth-
wehr gebracht haben; denn immerhin, nenne man
es, wie etliche thun, nicht jus, sondern favo-
rem necessitatis; genug, die Geseze die uns
die Natur vorschreibt, wißen hier nichts von ei-
ner Bestrafung. Ob es im foro interno, wie
sich die Philosophen ausdrücken, in manchen in-
dividuellen Fällen nicht vielleicht Ausnahmen
giebt, wo dies wider das Gewißen wäre, ist
eine Frage, die nicht in diese Betrachtung gehört.
Zum Glück kömt alles dies, so äuserst selten vor,
daß es mehr eine Untersuchung der Sachkundi
gen bleiben wird, als auf wirkliche Fälle an
wendbar seyn sollte.

Hier also wären wir nachsichtiger, als Cicero; er
hält über die Eigenthums rechte so sehr, daß er lie-
ber einen Menschen vor Hunger sterben läßt,
als sie verlezt; und wir, um einen Unglückli
chen, in Todesgefahr schwebenden, das Leben zu |<6>
erhalten, erlauben, daß er von einem Unmen-
schen, der flehentlichst gebeten, von ihm den Tod
nicht abwehren will, so viel nehme, um sein
Leben das ihm u[nd] der Welt, er sei wer er wolle,
nicht gleich gültig seyn kan, zu fristen. Gleich
darauf erlaubt nun Cicero die heiligen Rech-
te über Leben und Tod zu verletzen, ohne den
Fall genau genug zu bestimmen, wo diese auf-
fallende Ausnahme gemacht werden darf. In
wie weit stimmen wir ihm hierin bei, u[nd] in wie
weit suchen wir zu verhüten, daß eigenmächtig
Blut vergoßen wird, und wenn es auch gleich
das Blut eines Tyrannen ist?

Cicero fährt in dem nemlichen Kapitel fort:
,,Aber wenn ein tugendhafter Mann von der
Kälte beinahe aufgerieben wird, soll er da nicht
dem Phalaris,[2] jenem grausamen u[nd] unmensch-
lichen Tyrannen, seine Kleidung nehmen können?
Allerdings; denn wir haben keine Verbindung
mit den Tyrannen, sondern zwischen uns herrscht
vielmehr die größte Uneinigkeit. Es ist nicht wi-
der das Gesez der Natur, den zu berauben, den es
sogar recht ist zu töden; ja man sollte diese gan-
ze verderbliche Rotte von aller menschlichen Ge-
meinschaft ausschliesen.“

Cicero theilt also jedem Privatmann u[nd] Un
terthan, das Recht mit, für sich allein einen
Tyrannen berauben u[nd] umbringen zu dür-
fen. Sollte dies wohl nicht zu allgemein und
unbestimt gesagt seyn? W[enn] ich nicht irre,
sind genauere Distinktionen das einzige Mit-
tel, was uns hier auf einen sichern Weg
führen kan.

Zunächst müßen wir auf den Begrif vom
Tyrannen sehen, weil auf deßen Bestim-|<7>
mung alles ankomt. Versteht Cicero unter einem Ty-
rannen einen Menschen der 1) die oberste Gewalt
unrechtmäsiger Weise und mit Zwang an sich bringt,
u[nd] 2) in dieser Würde nun die Geseze des Staats nicht
ehrt; und nach eigner Willkühr Handlungen un-
ternimmt, die nach dem einfachsten Naturrecht
offenbar sträflich sind, dann hat er Recht; denn
hat der, der unschuldig von ihm leiden soll, den
er zum Opfer seiner Leidenschaft machen will,
das Recht, ihm zuvorzukommen, u[nd] den zu töden,
oder außer Stand ihm zu Schaden zu setzen, von
dem er sonst selbst wäre getödet oder seiner
Freiheit beraubt worden. Denn wie soll man
sich vor einen solchen schützen? Gesetze, auf die ich
mich berufen könnte, nimt er nicht an; ein
Gericht, bei dem ich ihn verklagen könnte, erkent
er nicht; u[nd] [we]lcher [?] Richter hat auch das Vermögen,
mir zu meinem Recht zu helfen, da jener al-
lein die oberste Gewalt an sich gerißen hat?
Entfliehen kan ich nicht; denn entweder er selbst
verhindert mich daran, oder wenigstens nimt
er dann mein Vermögen und schändet mei-
ne Familie, die ich doch vertheidigen sollte.
Wo also Vertheidigung hernehmen? Hier möchte
wohl der Fall seyn, daß ich ungestraft mei
ne Mitbürger zu sammen rotten, oder allen mit eig-
ner Hand ihm die Macht nehmen darf, mir zu
schaden, u[nd] habe ich hierzu kein andres hin-
reichendes Mittel, nun so fließe sein Blut, das
so nicht mehr Menschenblut heißen kan. Ich
lehne mich hier nicht wider meinen Fürsten
auf; denn das ist er nicht; er ist ein verbre-
cherischer Mitbürger, der eine Gewalt, die ihm
nicht gehörte an sich gerißen hat, und mit |<8>
dieser Gewalt nun noch mir Unschuldigen scha
det.

Daß Cicero wahrscheinlich diesen Fall allein vor
Augen hatte, können wir daraus vermuthen,
weil es theils in einem Staat, wie der war, wor-
in er lebte, keinen andren Alleinherrscher, als
einen unrechtmäsigen, geben konte, theils weil
die Alten dem Wort Tyrann allgemein diese Be-
deutung beilegen, daß es nemlich ein Mensch ist,
der eigenmächtig die oberste Gewalt eines frei-
en Landes an sich gerißen hat.

Aber auch den nennen wir einen Tyrannen,
der durch Erbfolge oder Wahl den Thron bestiegen
hat, u[nd] nun, da er im vollen Besiz u[nd] rechtmä-
sig erlangten Besiz der obersten Gewalt ist,
diese misbraucht, die Grundgesetze des Staats
ohne Einwilligung der Sprache des Volks ändert,
eigenmächtig Güter einzieht und Menschen ge
fangen sezt oder töden läßt, ohne ihre gerechte Ver-
schuldung angeben zu können. Soll da wohl
das nemliche erlaubt seyn, als in dem ersten
Fall bei dem Usurpator der Macht eines frei-
en Staates? Allerdings dürfte der verän-
derte Fall, u[nd] der Unterschied, wie dieser Mo-
narch zu der alleinigen Macht gekommen ist,
auch eine veränderte Folge nach sich ziehen.

Der Körper des Staats im Ganzen ist es, der
eigentlich die oberste u[nd] gesezgebende Gewalt
inne hat. Dies lehrt uns der erste Ursprung
der bürgerlichen Gesellschaften u[nd] nament-
lich der Monarchien. Die Menschen sehen ein, daß
sie jeder einzeln, ihrem Feinde nicht widerstehen
und tausend Bedürfniße nicht befriedigen
könnten. Es treten also ihrer z.B. 100 zu sam-|<9>
men, in der Absicht, künftig ihr Intereße als ge
meintschaftlich anzusehen. Jeder beschlos einen
theil seiner Freiheit herzugeben, um die allge-
meine desto mehr zu sichern. Sie erwählten ei-
nen aus sich, der nach Verhältnis der Umstän
de, durch Weisheit, Kühnheit, Stärke oder Reich-
thum sich vorzüglich auszeichnete. Diesem ga-
ben sie das Amt, für ihr allgemeines Wohl zu
sorgen, und das damit verbundne Recht, An-
ordnungen nach seinen besten Einsichten zu
machen, die auf diesen Zweck giengen. Eigentlich
bekam dieser Hundertste nur ein jus exercendis
u[nd] die andern 99 behielten den Hauptbesiz der
obersten Gewalt. So lange er nichts that, was dem
gemeinen Besten und der Gerechtigkeit wider
sprach, so ehrten sie ihn als ihren Fürsten; so bald
er aber anfieng, eigenmächtig und ungerecht
zu handeln, so bedienten sich die 99 ihrer Gewalt,
nahmen ihm sein ausübendes Recht, und straf-
ten ihn nun für die Verletz[un]g der Gesetze u[nd] Ge-
rechtigkeit. So entstand das Wahlreich, und auf
gleiche Art auch die Erbfolge in den Staaten. Die
Bürger hatten zu einem Mann das Zutrauen,
daß er nicht allein selbst gut und weise regie-
ren, sondern auch seine Söhne so erziehen und
sie durch seine Erfahrung unterrichten werde,
daß sie eben so gut, wie er, einst regieren würden.
Der Staat übertrug also der tugendhaften Fam-
milie seines Fürsten das Recht, daß künftig
der Sohn immer an seines Vaters Stelle Regent
werden sollte; oder wenigstens schwieg er da-
zu, wenn der erwählte Fürst seinen Sohn, der
der Regierung nicht unwürdig war, sich zum
Nachfolger sezte; aber die erste Bedingung dau- |<10>
erte fort, daß er weise u[nd] wohlthätig regieren
u[nd] daß die Gewalt über ihn, ihm nemlich Rechen-
schaft abzufordern und absetzen zu können,
immer in den Händen des Staats bleiben sollte.

So verändert auch jezt die Politik der Staa
ten im Vergleich mit diesen ihrer einfachen
Gründung ist, so beruht sie doch noch auf den nem-
lichen Grundsätzen. Zwar ist es in unsern Zei
ten ein seltnes Beispiel, daß ein Staat seinem
Fürsten Rechenschaft abgefordert hätte; aber
es mag nun auch durch die Umstände so
unmöglich gemacht worden seyn, als es immer
will, so bleibt es doch in den Rechten der Na-
tur und des Staats gegründet.

Dies kan uns nun in den Stand setzen, zu ent-
scheiden. Handelt ein Fürst wider die Grund-
geseze des Staats, wider Gerechtigkeit und
Billigkeit, so ist jeder einzelne Privatman, u[nd]
wenn er das äuserste von ihm leiden müßte,
dennoch nicht berechtigt, sich eigenmächtig zu
vertheidigen. So lange der Fürst noch Fürst
ist, so lange er noch die gesezgebende Gewalt,
die ihm der Staat anvertraute, in den Händen
hat, so lange ist er eine heilige Person, und
die Hand verrucht, die ihn gewaltsam an-
greift. Der Soldat, den er sich zu seiner Sicher-
heit hält, ist verbunden, alle seine Befehle
zu befolgen; es kan sich also auch gegen den
eigenmächtigen Angrif einzelner Unter-
thanen genugsam vertheidigen. Komm ich
nun in den Fall, daß der Fürst, der Tyrann
ist, mich in meinen Rechten stört, mich ohne
Schuld straft, meine Leben angr Ehre, mein Ver- |<11>
mögen, mein Leben angreift, so muß ich mich an
das Kollegium wenden, das der gesamte Staat
sich zur Vorsorge gesezt hat, und daß ich jezt als
den Körper des Staats ansehe, als unschuldig be-
leidigtes Mitglied mich über die Ungerechtig-
keit des Verwesers der obersten Macht ( denn blos
so betrachten wir den Fürsten) beklagen, und
als Mitbürger Schuz u[nd] Hülfe von diesem Ge-
richt verlangen, das über des Fürsten Handlungen
zu urtheilen Gewalt hat. Findet nun dieses Kolle-
gium die Handlung des Fürsten wirklich grausam
und ungerecht; er soll das Beste des Staats besor-
gen, aber jede ungerechte Handlung ist diesem ge-
radezu entgegen; so entsezt es ihn nun feierlich
seiner Würde. Sobald dies geschieht, tritt er
wieder in den bloßen Stand eines Privat-
mannes zurük. Der Soldat, den er sich als Fürst
zu seiner und des Staats Vertheidung
hielt, hört auf unter ihm zu stehen, u[nd] kömmt
wieder unter seinen eigentlichen Herrn, nem
lich den Staat. Seine Pflicht ist es, so bald der Fürst
entsezt ist, nun keine Hand mehr auf seinen
Befehl und in seinem Dienst aufzuheben,
sondern vielmehr die Befehle des Staats gegen
den ehemaligen Fürsten und nunmehrigen
Privatmann auf's treuste zu vollstrecken.
der gewesene Fürst wird also ohne Mühe ge-
fangen genommen. Das Gericht betrachtet
ihn als einen verschuldeten Mitbürger; er
wird angeklagt, und der Richter erkennt
über ihn nach den Gesetzen, wornach jeder
andere Verbrecher gerichtet wird.

Dies wäre, wenn der Soldat oder überhaupt |<12>
die Wache des Fürsten ihre Pflicht thut, und so-
gleich, wie der Fürst durch Deklaration des
Staats entsezt wird, aufhört, ihm zu gehor-
chen. Wenn nun aber der Soldat seinen un-
gerechten und entsezten Fürsten mit zu gro-
ser, und in dem Fall so gar schädlicher Treue
anhängt, und der Tyrann sich also noch mit
Gewalt im Besiz der obersten Macht erhält,
so bittet der eine Staat einen andern benach
barten um Hülfe gegen seinen Tyrannen.
Freilich sieht er nun sein Land zum Schauplaz
des Kriegs gemacht, und sich mit mancher Be-
schwerde belastet; aber ist es nicht beßer, alles
zu tragen, als vielleicht noch lange unter ei-
nem Boshaften zu schmachten, dem kein Recht
mehr heilig ist, und der in einem Jahr so viel
Schaden und Unglük anrichtet, als der beste
Fürst in seinem ganzen wohlthätigen Leben
kaum wieder ersetzen kann.

Dieß scheint die Art, die einzige Art der
Vertheidigung zu seyn, die das Recht der Ver-
nunft und Natur einer beleidigten Un-
schuld gegen ihren rechtmäsigen Fürsten
erlaubt. So handelte also Wilhelm Tell,[3] der
Man mit dem teutschen Herzen, mit dem Ge-
fühl vor Freiheit, vor Recht und Unrecht, un-
sträflich, lobenswürdig, gros; und so blei-
be die finstre That Ravaillac’s[4] verabscheut
von allen folgenden Jahrhunderten, und
ein trauriges Denkmal, wie weit die Mensch-
lichkeit ausarten kann. —

Und was habe ich nun da gesagt? Einen |<13>
artigen Traumgeträumt, sprichst du, der frei-
lich in der Ausführung nicht übel wäre, aber der
vor unsre Zeiten auch weiter nichts, als ein Traum
bleiben wird. Ich gebe es zu; es sei dies
immer; genug, wenn wir nur daraus se-
hen, daß wir nach dem Recht der Natur un-
sern rechtmäsigen Fürsten nicht mit eigner
einzelner Hand richten dürfen. Cicero konn-
te wohl mit Recht von einem Tyrannen
sagen, wie er ihn verstanden haben mag: „So
wie wir vom menschlichen Körper, die abge-
storbenen Glieder, die den übrigen nur schaden
würden, abschneiden; so müßen wir auch die-
se in Menschengestalt gekleidete Wildheit
und thierische Grausamkeit vom Körper
der Menschheit trennen.“ Aber wir müßen
nach der gemachten Distinktion mit gröse-
rer Behutsamkeit und Bestimmtheit hiervon
reden. Unser Philosoph giebt uns auch das
Recht dazu in den Schlus worten dieses Kapi-
tels, wo er sagt, daß man hier immer auf
die Umstände, und die Zeit mit Rücksicht
nehmen müße.

Auch dieser Fall, der in der Anwendung tau-
send Schwierigkeiten haben würde, gehört
unter die grose Zahl der philosophischen Proble-
me, die nur dem Untersucher wichtig sind,
aber auf das menschliche Leben keinen
Einfluß mehr haben. So gegründet jedoch
der Saz ist; daß jede Wahrheit ohne Ausnah-
me uns wichtig und nüzlich ist; so lieb müßte
auch jeden Freund der Wahrheit die Bestimmung |<14>
des Rechts in diesem Fall seyn, er sei so unan-
wendbar, als er immer wolle. Denn in unseren
Zeiten würden schon die benachbarten Staaten,
die ein Tyrann ohnedies gern beleidigt, von
selbst die Waffen ergreifen, uns der Nachbarschaft
eines Mächtigen, vor deßen Tüke kein Gesez mehr
schüzt zu entledigen, und ihn von einem Thron
zu stoßen, der nur für wohlthätige Väter des
Landes aufgebaut und mit Macht beklei-
det ward. Aber unsre Fürsten sind gut
und weise; sie sehen, daß das Wohl ihres Staats
ihr eignes Glük, die Liebe ihrer Unterthanen
ihre stärkste Vormauer und Sicherheit, u[nd]
der Reichthum der Bewohner ihrer Lande
ihr eigner größter Reichthum ist. Ja, ihr
guten Fürsten, genießt immer für eure
Weisheit und väterlichen Gesinnungen
das Glük, Lasten vom Hals der Untertha-
nen, die ja alle einen natürlichen Anspruch
an Freiheit haben, zu nehmen, Euch, als
Väter geliebt und als Wesen höherer Art
verhert zu sehen; genießt der Überzeu-
gung, die das unbegreifliche Glük der Gott-
heit ausmacht, gute Thaten um Euch ge-
sammelt zu haben; aber genießt auch das
Glük, das eine Folge von jenem ist, Eure
Länder blühen zu sehen, die Felder voll See-
gen, den Unterthan vergnügt, überall Reich-
thum, der Euch aus willigen Händen an-
geboten wird, um die kostbarsten Unterneh-|<15>
mungen dadurch möglich zu machen. Ihr seid es,
die der Gottheit hier am ähnlichsten werden
können; und wenn ihr wahrhaft glüklich
seyn wollt, wenn ihr Seeligkeiten schenken
wollt, gegen den der sinnreichst vorhandene
Glanz Eures Thrones ein gaukelndes Spiel
ist, o so versäumt nicht, diesem erhabenen,
diesem allererhabensten Urbild zu glei-
chen.
        %
                Gronovius.

Notes

  1. Ugolino, Tragödie in fünf Aufzügen, 1768 anonym veröffentlichtes Drama von Heinrich Wilhelm von Gerstenberg. Erzählt wird die Geschichte des Grafen Ugolino, der zusammen mit seinen Söhnen eingekerkert und dem Hungertod überlassen wurde.
  2. Phalaris (griechisch F??a???), Tyrann der griechischen Kolonie Akragas in Sizilien von etwa 570 bis 555 v. Chr. Der Legende nach soll P. seine Gegner in einem bronzenen Stier geröstet haben lassen. Nach einem Aufstand soll er darin selbst zu Tode gebracht worden sein.
  3. Der Urner Wilhelm Tell soll der Legende zufolge im Jahr 1307 den habsburgischen Vogt Hermann Geßler mit der Armbrust erschossen haben, nachdem dieser ihn gezwungen hatte, seinem (Tells) eigenen Sohn mit der Armbrust einen Apfel vom Kopf zu schießen. Die Tell-Sage erfreute sich offenbar großer Beliebtheit bei den Illuminaten; so wählte August von Gotha den Namen von Tells Schwiegervater zum Ordensnamen („Walther Fürst“). Der Stoff wurde von Friedrich Schiller in seinem 1804 fertiggestellten Drama Wilhelm Tell verarbeitet.
  4. François de Ravaillac (1578-1610), erstach am 14. Mai 1610 König Heinrich IV. von Frankreich in dessen Kutsche und wurde 13 Tage später auf grausame Weise öffentlich hingerichtet.