D-Q6657

From FactGrid
Jump to navigation Jump to search

Commentary

Selbes Thema wie SK13-068 und SK13-104

Der Aufsatz beginnt mit Rhetorik. Die Gegenoption zur nachher eingenommenen, wird erst einmal rhetorisch schmackhaft gemacht: Es gibt Erzählungen, die daran zweifeln lassen, dass die Mehrzahl der Menschen Gut seien.

S. 3 unten kommt dann jedoch der sehr einfache – an aller Theodicee vorbeigehende –

Gegenbeweis pragmatischer Natur: Die meisten bösen Handlungen kommen nur zustande, da die Täter ihre Bosheit verbergen und sich den Anstrich der Güte geben. Das belege, dass sie selbst daran glauben, dass die Mehrzahl der Menschen gut sei, und sich in deren Masse zu verbergen suchen – und dass sie dazu die Konzepte des Guten in sich tragen.

Ein Fundamentalzweifel an der Trennung von Gut und Böse (oder eine pragmatische Trennung, wie sie bei Christian Thomasius in den 1690ern angedacht war: Böse ist, wer unseren Plänen zuwider arbeitet) steht nirgends in Reichweite. Es gibt hier zwei Gruppen von Menschen, deren Grundeigenschaften demnach entweder offen sind: die guten, die selbst keinen Grund haben, so zu tun, als ob sie böse sind, oder aber geheim gehalten: die Bösen, die sich als Gute tarnen. (Eine nicht thematisierte Verbindung liegt hier zu anderen Illuminaten-Schriften, in denen es um die Legitimität von Geheimbünden der Guten geht).

Beispiele der Guten, die ihr eigenes Leben riskieren, runden das eher empirische Beweisverfahren ab. Antike und Gegenwart liefern die Beispiele von Heldenmut und Opferbereitschaft (Kodros, Titus und der Prinz von Braunschweig und Wolfenbüttel, der 1785 im Oder-Hochwasser ertrank).

Transcript

Was ist wahrscheinlicher, daß es mehr böse
oder mehr gute Menschen in der Welt giebt?



So wie man diese Freuden volle Welt, nur
in einen Anfall von übler Laune, die etwa
durch einen übermäsigen Genuß verursacht wor-
den ist, eine böse Welt oder ein Jammerthal
nennen kann, so glaube ich, daß ebenfalls
eine sehr böse Laune dazu gehören müße, um
behaupten zu können, daß der größere Theil
[de]s menschlichen Geschlechts durchaus böse sey.
Zwar geb ich zu daß kein Mensch ganz fehler-
frey sey, aber ich kann doch den traurigen Ge-
[d]anken in meiner Seele nicht Plaz geben, daß
[g]robe Bosheit die Triebfeder der meisten|<2>
menschlichen Handlungen seyn könne, und
daß das Laster mehr Reitze als die Tugend
haben solle. Mit Recht glaub ich behaupten
zu können, daß die Tugend weit mehrere
Verehrer habe, als sich öffentlich zeige. Selbst
der Begriff der Tugend, der doch nichts an[ders]
enthält, als was wir sonst bey den Werken
der Kunst Schönheit und Wahrheit nennen
und hier nur moralisch betrachtet wird,
läßt es nicht zu daß wir ihr unsern Beifall
versagen; die Vernunft ohne Vorurtheil, kann
ohnmöglich etwas andres thun, als unser Herz
für Tugend und Rechtschaffenheit empfänglich
machen, hierbey beziehe ich mich auf das
Zeugniß der ganzen Welt. Wer kann wenn
er sonst richtig denkt etwas Böses wollen? |<3>

Aber auch die Vortheile, die das Gute, uns in der
menschlichen Gesellschaft erwirbt müßen noth-
wendig zum Guten reitzen, und ich muß nach meiner
geringen Erfahrung sagen, daß ich Bösewichter, bey
denen nicht die geringste gute Neigung anzutreffen
gewesen wäre, weder im Umgang noch bey Lesung
der Geschichte gefunden habe.

Oft hat es mich zwar beunruhigt wenn ich in Ge-
sellschaft, immer mehr von theils heimlich, theils
[ö]ffentlich verübten Bosheiten, und nur selten von
[wa]hrhaft edlen Handlungen habe erzählen hören,
[e]s fehlte wenig daß ich dadurch nicht bewogen
worden wäre, den falschen Schluß zu machen, daß
[e]s würklich mehr böse als gute Menschen ge-
ben müße: allein ein wenig tieferes Nach-
denken, hat mich überzeugt, daß ich geirrt haben
[w]ürde. Der Abscheu und der allgemeine Wider-
[w]ille gegen das Böse ist es, der eine jede böse|<4>
That, auffallend merklich macht, und daher
wird oft das Publikum veranlaßt
gleichsam andern zur Warnung, auch heimlich
verübte Schandthaten zum Gegenstand der Un-
terhaltung zu machen. Ich sehe also, und ich hoffe
mit Recht, diese Art von Schwatzhaftigkeit, und das was man
Afterreden (medisance[1]) nennt, als eine Würkung
des Gefühls fürs Gute an; und glaube daß gute
Handlungen um deßwillen nicht so in die Augen
fallen, weil unser Gefühl uns sagt, daß es so
seyn müße. Sollte auch die vorgedachte Schwatz-
haftigkeit endlich in bösen Leumund ausar-
ten, so scheint mir dieses doch auch nicht zu
beweisen, daß die Bosheit in der Welt die Über-
hand habe, denn selbst der Verläumder der sich
vielleicht durch Leidenschaften hat hinreisen
laßen etwas Böses von einen Unschuldigen|<5>
aus zu sprengen, zeigt ja durch sein eignes Betragen
daß die Welt das Gute verehret, weil er die Ach-
tung derselben, demjenigen den er haßt entziehen
will.

Selbst die blos relative Beschaffenheit des minder
Vollkommene oder Böse in dieser Welt, (wo es immer
nur als vortheilhaft für die Erhaltung des Ganzen,
angetroffen wird, und ohne welches sich das Gute
nicht denken läßt,) scheint mir Beweises genug
zu seyn, daß das Ubergewicht des Guten, in der
moralischen Welt, eben so wie in der physischen
statt finde, mithin mehr gute als böse Menschen
vorhanden seyn müßen.

Ein einziger Blick auf die Geschichte der
Menschheit geworfen, benimmt uns folgends
allen Zweifel. Einzelne Bosewichter, würden
nie ihre Schandthaten haben ausführen können,
hätten sie sich nicht des Deckmantels der Tugend
bedient. Lasterhafte Absichten, wenn sie öffentlich|<6>
entdeckt worden wären, würden gewiß dem
Unternehmer wenig Anhänger geschaft
haben, denn auch niedrige Seelen würden
den Schein des Bösen vermieden haben.

Wie sehr erhebt nicht die Erzählung einer edlen
That unsre Seelen, wie werden wir nicht dadurch
angefeuert zu wünschen eben so edel als ein andrer zu
handeln handeln zu können, wie reitzend sind nicht die Beispie-
le die die Geschichte uns aufgezeichnet hat.
Codrus,[2] Titus,[3] die Antonine,[4] werden noch im-
mer von uns verehrt, und die neure Ge-
schichte gewährt uns auch sichre Beispiele.
Hat nicht der edelmüthige Tod Prinz Leopo[l]ds
von Brauschweig[5] jedermanns Thränen
erhalten – Auch den wildesten und
rohesten Nationen kann man das Gefühl
fürs Gute nicht absprechen, Beyspiele genug
hiervon liefern uns die neuern großen See-
reiser. |<7>

Gewiß ist es also, die Anzahl derjenigen die wenig
Gefühl fürs Gute haben, ist schon sehr gering,
und wahrhaft böse Menschen, finden wir noch
seltner; die meisten tadelnswürdigen Hand-
lungen der Menschen, sind zwar fehlerhaft
zu nennen, sind aber doch öfters so beschaffen
daß sie nach genauer Untersuchung billig
nur Schwachheiten zu nennen sind. Grobe
Herzens Bosheit ist nie herrschend, aber auch
der edelste Mensch ist nicht ganz von Fehlern
frey. Dieses ist das Resultat der Betrachtungen,
die ich angestellt habe, seitdem die Aufgabe mir
vorgelegt worden ist; ob es mehr böse oder gute
Menschen in der Welt gebe? und ich glaube mich
uberzeugt zu haben, daß um das Gegentheil
zu behaupten von dem was ich gesagt habe
zu behaupten, mehr als eine üble Laune, ein|<8>
[wa]hrer [?] Menschenhaß dazu gehörn.

Xenophon

Notes

  1. Frz. médisance = üble Nachrede
  2. Kodros (griechisch Κόδρος), der Sohn des Melanthos aus dem Geschlecht der Neliden, war der letzte (legendäre) König von Attika. Nach der sagenhaften Überlieferung erklärte bei einem Einfall der Dorer 1068 v. Chr. das Orakel, die Athener würden nur dann siegen, wenn ihr König von den Feinden getötet werde. Kodros begab sich als Bauer verkleidet ins feindliche Lager, das sich am Fluss Ilisos befand. Er fing dort Streit an und wurde erschlagen, worauf die Dorer, nachdem sie von dem Orakelspruch Kunde erhielten, wirklich abzogen. Das bereits eroberte Megara überließen sie den Korinthern.
  3. Titus (geb. 30. Dezember 39 in Rom; gest. 13. September 81 in Aquae Cutiliae, Latium), Nachfolger seines Vaters Vespasian, zweiter römische Kaiser der flavischen Dynastie. Regierte vom 24. Juni 79 bis zu seinem Tod zwei Jahre später. Beendete als militärischer Oberbefehlshaber den Jüdischen Krieg, wobei Jerusalem und sein Tempel zerstört wurden. Für seinen Sieg wurde er mit einem Triumphzug und dem Titusbogen in Rom geehrt. Aus der Kriegsbeute finanzierten die Flavier ihre Bautätigkeit in Rom, Titus selbst ließ das Kolosseum vollenden. Von der antiken Geschichtsschreibung als idealer Herrscher gerühmt. Nachdem im Jahr 79 der Vesuv ausgebrochen war, leitete er die Hilfsmaßnahmen ein, ebenso im darauf folgenden Jahr nach einem Brand in der Stadt Rom.
  4. Die gens antonia, deutsch Antonier, im Nomen Antonius, war eine bedeutende plebejische Familie im Römischen Reich. Die Familie führte ihre Abstammung auf Anteon zurück, einen Sohn des Gottes Herkules. Ganz gute Geschlechtsübersicht bei Wikipedia unter dem Stichwort Antonier.
  5. Maximilian Julius Leopold von Braunschweig-Wolfenbüttel, Prinz von Braunschweig-Wolfenbüttel und nominell Herzog von Braunschweig und Lüneburg (geb. 11. Oktober 1752 in Wolfenbüttel; gest. 27. April 1785 in Frankfurt/Oder); preußischer General. Berühmt durch die Legende, die sich sehr schnell um seinen Tod mit 32 Jahren rankte: Er habe beim Oder-Hochwasser Menschen retten wollen, und gegen den Rat der Umstehenden ein Schiff betreten, das dann in den Fluten unterging. Die Geschichte selbst schönt in der Zielsetzung, der Prinz scheint hier eher um die Habe der ihm untergestellten Truppen bedacht gewesen zu sein, die am anderen Flussufer lagerte. Ein Stich von Chodowiecki prägte die Rezeption des Ereignisses nachhaltig.