D-Q6670

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Commentary

Aufsatz mit interessanter Rousseau Invektive. Frage, ob die Wissenschaften dem Staat nützen. Sie tun dies, das sie jeden Einzelnen aus der Verrohung ziehen und über größere Zwecke nachdenken lassen, vor allem aber, da sie dem Staatslenker das Wissen an die Hand geben, mit dem er in der Gesellschaft der vielen Interessen und mangelnder Bereitschaft dem Gemeinwohl zu dienen, das Kunststück des koordinierten Zusammenwirkens erzeugt.

Rousseau habe sich mit den Wissenschaften bewaffnet gegen diese gewendet und das Bild einer Gesellschaft der fehlenden Zivilisation als Idealbild gezeichnet – als Idealbild, das dem Zerfall moderner Staaten vorbeugen soll. Hiergegen wird das Bild der von einem einzelnen Regenten koordinierten Staates aufgebaut. Es beruht auf einer Schilderung des Istzustandes, in dem bei allen Bürgern ein geringes Interesse besteht, Anordnungen zu folgen. Den einen fehlt Mut, andere sind „widerspenstig“ – sie alle muss der Regent koordinieren.

Eine koordinierte Wissenschaft sollte das Wissen, das in der Gesellschaft ist sammeln bis hin zu dem Wissen das die Mütter ihren Kindern vermitteln.

Loblied am Ende auf die schönen Wissenschaften, die uns bewegen und zu allem lenken können, und ohne die nichts vom Ruhm der Eroberer noch uns geblieben wäre, von deren Taten wir heute gerne lesen, da gut, das heißt mit eigener Wissenschaft über das Schreiben, von ihnen geschrieben wurde.

In all diesen Punkten auf den Regenten und den Staat als sein Schachspiel konzentrierte Darstellung. Leise kritische Untertöne – wie üblich – gegen Grausamkeit des Kriegs und gegen Spanien, das Gold hortete, doch damit nicht reich wurde, da ihm Wissenschaft fehlte, so die Behauptung (die hinter interessanteren zeitgenössischen Analysen zum Mehrwert durch Handel weit zurückbleibt).

Transcript


Das Glück der Staaten
deren Häupter die Wißenschaften schützen


Die Wißenschafften sind das Werck der
emsigen Anstrengung des Geistes, dadurch
das Vermögen zu Dencken ausgebildet, und
die Begierden auf Weißheit und Tugend
gelencket werden. Sie sind die Fackeln
welche die Gegenden der Dunckelheit und
der Nacht erleuchten, welche machen, daß
unser Fuß auf rauhen und ungebahnten
Wegen ohne anzustoßen einhergehet, welche
uns die verborgensten Schätze entdecken die
uns die Hand der Natur zur Glückseligkeit
anbietet. Sie erheben den Geist des Menschen
zur aus gebreiteten Einsicht, zu höhern
Empfindungen, und zu den edelsten Ent-
schließungen. Die Natur gab ihm wohlthätig
die Kraft das Wahre von dem Schein, das
Recht vom Unrecht und die Wohlfahrt vom
Verderben zu unterscheiden. Allein den
Ruhm diese Kraft zu fördern wollte sie ihm
nicht misgönnen. Und er erfüllt ihre Absicht|<2>
wenn sein reger Eifer sich zu mehr als ge-
meinen Kenntnißen emporschwingt. Schon
diese Betrachtungen könnten es außer Zwei-
fel setzen, daß die Gelehrsamkeit dem Staa
te nützlich sey und den Schutz der Regenten
verdiene. Wird es ihm nicht nützlich seyn
daß seine Bürger Leute von aufgeklärter
Einsicht sind? daß sie geschult sind wohl
zu dencken und zu urtheilen? daß sie
entfernet von der Wildheit der ersten
Jahrhunderte sanftere und mildere Ge-
sinnungen annehmen? Man muß ein Rous-
seau seyn, der bewafnet von der Wißen
schafft wieder die Wißenschaft streitet, der
sie mit dem Schwerdte tödten will, daß
er von ihnen geliehen hat, wenn man mit
ihm den Stand der Wilden der Gesellig-
keit vorziehet, und die Vortheile, die die
Wißenschafften der Gesellschafft bringen als
eine Ursache von dem Untergang der Staa-
ten betrachtet. Das Gefühl aller der großen
Vorzüge, die uns die Gelehrsamkeit ver-
stattet, sträubet sich mit so heftiger Gewalt|<3>
gegen die hinreißende Beredsamkeit dieses
außerordentlichen Mannes, daß der volle
Strom derselben mitten in seinem Lauf auf-
gehalten wird. Kann der Staat glücklich seyn
wenn sein Beherrscher keine Liebe zu den
Wißenschafften hat die zum Regieren un-
entbehrlich sind? Wird nicht dieser die
Wißenschafften zu lernen suchen sobald er
sie liebt, und sie schützen, sobald von ihnen
sein Geist erfüllet ist? Kann man leugnen
daß ein Fürst nicht unwißend seyn müßte,
wofern man anders zugiebt, daß seine
Hand das Ruder der Regierung selbst um-
faßen, und es nicht bloß fremden Händen
anvertrauen solle? Was ist der Staat
den er regieren soll? Er ist ein Körper
den unzählige Seelen beleben, die aber
alle von einer einzigen und zu einem
Zwecke gelencket werden müßen. Er ist
eine Menge von Leuten von verschiedenem
Alter, Stande, Vermögen und Gesinnungen,
und noch mehr von verschiedenen Intereßen,
welche gleich wohl zu einem gemeinschaftlichen|<4>
Intereße vereinigt werden, und dieses ihrem
Privat Nutzen vorziehen sollen. Er enthält
wenig Weise, die ihre Pflicht kennen und aus
eigener Wahl erfüllen, viel Unruhige die
mit öffentlichen Anordnungen nie recht zu
frieden sind, Wiederspenstige die nur
gezwungen gehorchen, Unbändige die oft
schwer zu bezähmen sind, Verzagte die die
Gefahren auch da noch scheuen, wo die ge
meine Wohlfahrt, Herzhaftigkeit erfordert,
Wanckelmüthige die wie ein schwankendes
Rohr von jedem Lüftchen bewegt werden.
Welche Einsicht wird nicht dazu erfordert,
die Zusammenstimmung so verschiedener
Theile zu einem einzigen Ganzen zu be-
fördern? alle diese unterschiedenen Gesin-
nungen und Neigungen zu vereinigen,
zu machen daß jeder bereit sey seinen
häußlichen Vortheil dem Vortheil des Staates
aufzuopfern; die Unzufriedenen, Liebe
für die Regierung, denen die nur aus
Zwang gehorchen, Lust zur öffentlichen Ruhe
einzuflößen; Freche, die keiner Güte Raum|<5>
geben, durch den Gewalt zu bändigen; den
Feigen Muth, und den Unbeständigen Standhaf
tigkeit zu geben? und woher wird dem Re
genten diese Einsicht kommen, wenn nicht das
Licht der Wißenschafft seinen Verstand er-
heitert? Zwar ein feiner Verstand, den die
Natur verleihet, siehet oft das was der
geübte Gelehrte nicht bemercket. Aber es fehlet
ihm doch an dem Maßstab wornach er die
Richtigkeit aller vorkommenden Fälle genau
bestimmen und ordnen kan. Das Licht was
der beste natürliche Verstand hat, wird unend-
lich durch dasjenige erhöhet was er von den
Wißenschafften bekömmt. Jenes ist nur eine
schwache Dämmerung, einige Uebung ist seine
Morgen-Röthe, aber der Glanz den es durch
die Wißenschaft erhält, gleichet erst der
vollen Mittag Sonne. Und Plato hat Recht zu
behaupten, daß nur der Staat recht glücklich
sey worin die Philosophen herrschen, oder die
Herrscher philosophieren. Man muß es daher ein-
gestehen was auch Plutarchus schon ausführlicher
gelehret hat, daß ein Fürst Wißenschaften besitzen|<6>
müße, ohne gleichwohl von ihm jede Art der Ge-
lehrsamkeit zu fordern. Jeder Stand braucht seine
eigenen Kenntniße. Und es giebt einige die ein
Regent entbehren kan, und noch andere die er
entbehren muß, wenn er nicht Geschäffte von
größerer Wichtigkeit seine Bemühungen ent-
ziehen will. Geschmückt von dem Gewande der
Gelehrsamkeit wird also der Regent den Staat
beglücken, und dann wird es ihm nie an Bür-
gern fehlen die wie er die Wißenschafften
lieben. Der größte Theil der Menschen ist
gewohnt die Muster derer die höher als sie
sind sich zum Nachahmen vorzusetzen. Und wie
viel Eindruck wird dann nicht das erhaben
ste Beyspiel des Fürsten in der Seele des
Unterthans machen, wenn er die Wißenschaf-
ten schützet? alles wird sich wetteifernd
darum bemühen, und jeder heutige Staat
dem dies Glück zu theil wird, wird ein
neues Athen vorstellen, in welchem oft der
Künstler und der gemeine Arbeiter Anschläge
gaben die zur dauernden Wohlfahrt des
Vaterlandes abzielten. Wofern aber es auch
nicht geleugnet werden kan, daß der Unterthan|<7>
deßen Herz durch die Macht der Wißenschafft
erweichet ist, ein besserer Bürger, und ein
folgsameres Glied des Staats-Körpers ist, als
der, deßen rauhe Seele diesen feinern Eindrücken
nicht offen stehet, so sind die Staaten zwie-
fach glücklich deren Häupter die Wißenschafften
schützen; so sind diese Häupter dem Staate
Vortheilhafter als die reichen Gold-Gruben
beyder Indien, wovon es die Erfahrung ge-
lehret hat, daß sie nicht immer diejenigen
Staaten in deren Besitz sie sind glücklich,
und aus wärtigen furchtbar machen.

Aber so reizend diese Vorstellungen
meine Brüder sind, so werden sie doch
noch weit mehr verschönert, wenn man
auf die segensreichen Folgen acht hat, die
aus dem Schatze entstehen den die Götter
der Erde den Wißenschafften angedeien
laßen. Und hier zeiget sich mir zuerst
das ehrwürdige Bild der Religion. O!
wie lange sahe sie Germanien, wie viele
Jahrhunderte lang andere Staaten, in
dem traurigsten Zustande. Der Aberglaube|<8>
ein Sohn der Unwißenheit, hatte sie in
ein verstellendes Gewand gehüllet, woraus
man nur sparsam ihre natürliche Reizun-
gen hervorschimmern sah. Auf dem Throne
der Cäsarn herrschten Priester deren ge-
fürchtete Aussprüche die Religion ihrem
Willkühr unterwarffen, die Unterthanen
wider ihre Regenten bewafneten, und die
mächtigsten Könige vor sich knien ließen.
Aber kaum fing die Wißenschafft an sich
über die Tyranney des Aberglaubens sieg-
reich empor zu heben, so eilete sie der
Religion jene entehrende Hülle abzureißen,
und plötzlich sah man sie in ihrer ganzen
Schönheit. Die erhellte Vernunft ließ sich
nicht mehr von dem Eigennutz, und vom
Betruge täuschen. Man rieß sich selbst
die Binde von den Augen, die so lange
een Taumel der Blindheit verursacht hatte.
die Tempel und die Altäre die zuvor
Durch tausend Gräuel entheiligt waren,
wurden nun zum heiligen Dienste wür-
diger geweihet. Und euch allein ihr mäch-|<9>
tigen Wißenschafften! Danckte, zunächst nach
eurem Urheber dem obersten Beherrscher aller
Welten, der gebeßerte Erdkreis sein Glück
Und sein Gedeien.

Die Ehre die der Gottheit würdig darge-
bracht ward, konnte nicht ohne Würkung seyn
die Gerechtigkeit, und das ganze Chor der Tu-
genden kamen in dem Gefolge der Religion.
Sahe man sonst, vor den Richterstühlen, die
Unschuldigen durch die Räncke des Aberglaubens
gebeugt, als Verbrecher verdammen, so wog
Nun die Waage des Richters, nach Gründen
der Vernunft die ihm seine Wißenschafft
anbot, das Recht und Unrecht ab daß er ver-
theilen solle. Anstatt die Entscheidung der
Streitigkeiten, dem gerichtlichen Zweykampf,
oder der Berührung des glüenden Eisens,
oder des versuchten Sinkens oder Schwimmens
im Wasser zu überlaßen; anstatt der Bar-
barey jener fälschlich sogenannten Gottes Ur-
theile, wovon noch in späteren Zeiten Spuren,
wenn gleich nur selten, unter den Teutschen
zu finden waren, ferner Raum zu geben|<10>
fing man an, die Thaten mit ihren Beweisen
nach der Vorschrift richtig erklärter Ge-
setze zu prüfen. Und die Wißenschafft der
Rechte, die ein vortheilhafteres Ansehen ge-
wonnen hatte, verbot es, um eines miß-
verstandenen Kunstwortes willen, nützliche
Bürger als Ketzer zu erklären, oder zu
bestrafen.[1] Sie wehrete den Flammen der
Scheiterhaufen, die zuvor, so viel unschul-
dige Elende, unter dem betrügenden Vor-
wande überwiesener Zauberey, verzehrten.

Doch wann würde ich fertig werden,
wenn ich Ihnen alle die angenehmen Gegen
stände schildern wollte, worin sich die Vor-
theile entdecken laßen, welche die Gelehr-
samkeit, durch die Beförderung der Tugend,
der guten Sitten, und unzähliger anderer
Vorzüge, dem menschlichen Geschlechte erwirbt.
Wir müsten in die Cabinette der Großen
eilen, wo die Wohlfahrt der Länder nach
Den Regeln der Weisheit geordnet wird.
Wir müsten die Hörsäle der Gelehrten
aufsuchen, worin der Flor einer edlen Jugend|<11>
zu dem Dienste des Staats zubereitet wird.
Wir müßten die Häußer weiser Bürger
besuchen, worinn der sorgende Vater sein
Hauß mit dem glücklichen Erfolge regieret,
den man von seiner guten Einsicht in
die Wißenschaften erwarten dürfte. Wir
müsten die Bemühungen der Mütter nach
zuforschen suchen, die in Erziehung der
Kinder beweisen, daß ihr Verstand nicht
roh geblieben, sondern durch Kenntniße
die dem zärtlichen Geschlechte anständig
sind, ausgebildet sey. Wir müsten alle
die nützlichen Anstalten durch schauen, worin
man durch Hülfe der Wißenschafften, alles
was die Erde hervor bringt zu gewinnen,
und zum Nutzen der Gesellschafft anzuwenden
sucht; wo tausend Hände beschäfftiget sind,
von den fruchtbahren Ebenen den Segen ein-
zuerndten der die Felder krönete; oder
aus den Eingeweiden der Erde, und aus
dem Abgründen des Meeres die Bedürf-
niße und den Überfluß hervor zu brin-
gen, und alles das aufzusuchen; und|<12>
zum Vortheil und Vergnügen zuzubereiten,
was von Steinen, Pflantzen und Thieren
dem menschlichen Geschlechte nützlich seyn
kann. Hier würden wir uns die Gold
Gruben und noch mehr die nützlichere
Eisenminen, dort den Seiden Bau vor-
stellen, wo man aus dem Gespinste
eines unförmlichen Insects die prächtig-
ste Zierde unserer Kleidung und un-
serer Wohnungen erschaffet. Für die
Tempel Gottes, die Palläste der Großen
und die bequemen Wohnungen der Bürger
die die Bau Kunst aufführte. Dort die
Schiffe, die die Fluhten durchschneiden,
und selbst in der Dunckelheit der Nacht
den Weg sich zeichnen, wo keine Spur
zu finden war. Hier die rohe Wolle
und den Flachs, in der Verbeßerten Ge-
stalt der Zeuge und der Leinwand,
dort unzähligen Arten der nützlichsten
Gefäße, Werckzeuge und Geräthe die
der Fleiß der Arbeiter nach den Regeln|<13>
der Kunst verfertigt. Wir müsten an die
Studier-Stuben der Gelehrten eilen wo
auf den Wegen der Leibnizen und der
Newtons, die Weisen, bey dem schwachen
Scheine der nächtlichen Lampe, alle die
großen Erfindungen hervor bringen, die
nachher in vollem Glanz den Erdkreis er-
leuchten; oder zu jenem Schauplatz des mensch-
lichen Elendes der Kranckheiten und der Seuchen
die vor der heilsamen Kunst des Arztes
schüchtern entfliehen. Wir müsten die Menschen
betrachten wie sie mit gestärckten Auge
bald in das graue Alterthum, bald in die
fernste Zukunft hinein schauen; wie sie
jenem durch die lehrende Geschichte, dieser
durch kühne Vermuthungen die Decken
entreißen dadurch beyde ihren Blicken
entzogen waren; wie kaum die Erde
oder der Himmel etwas so verborgenes
oder so entferntes haben, daß nicht die
Macht der Wißenschafft entdecken solte.
Wir müsten uns endlich den Krieg mit|<14>
allen seinen Schrecknißen dencken, um den
großen Antheil zu bezeichnen, den die
Wißenschafft auch dann noch an der Wohl-
fahrt der Staaten hat, wenn die Ruhe der
Bürger nur durch Blut erkaufet werden
kann. Hier würden wir die Xenophons.[2]
und die Eugens,[3] die Archimeden[4] und
die Vaubons[5] auftreten laßen um in
diesen großen Beyspielen zu zeigen
daß es nicht blinde Verwegenheit, sondern
weiser Muth, nicht unüberlegte Hitze,
sondern durch Wißenschafft gestärckte Tap-
ferkeit war, wodurch sie die Feinde
des Vaterlandes zittern machten.

Bisher habe ich die Wißenschafften über
Haupt betrachtet, wie sie den Staat in
dem sie blühen, beglücken. Aber welch
eine heitere Aussicht ofnet sich mir, wenn
Ich mir besonders die angenehmeren Arten
der Wißenschafften vorstelle, wenn ich
die Mahlerey und Bildhauer-Kunst Ver-
gnügen, die Music rühren, die Dicht-|<15>
Kunst entzücken, und die Beredsamkeit
fortreißen sehe. Welche neue Quelle der
Glückseligkeit für die Staaten die diese
sanftern Künste ernähren! welcher Reich-
thum von Materien bietet sich mir hier
von neuen an, die Wohlfahrt der Länder
befördert von der Wißenschafft, zu zei-
gen. Ein Theil dieser Künste beschäftiget
die Bürger auf eine angenehme und nicht
unnütze Weise, und wehret also dem
Müßiggang, dieser Pest der Reiche und
Länder. Ein anderer unterrichtet, und macht
daß der lehrreiche Vortrag mit Vergnügen
aufgenommen wird. Noch ein anderer er-
schüttert die Seelen, und herrschet mit
unwiederstehlicher Gewalt über die Her-
zen aller Bürger. Giebt es Arten des
Vergnügens die unschuldiger und rei-
zender sind, als die, welche die Harmo-
nie der Saiten und des Gesangs her-
vorbringt? Ist ein Unterricht der williger|<16>
aufgenommen wird als der den die Dicht-
Kunst ertheilet? Es ist merckwürdig daß
die ersten Stifter der Republicken, die
die wilden Völcker erst in Menschen zu
verwandeln anfingen, fast alle sich der
Dicht-Kunst bedient haben, ihre Lehren da
rin vorzutragen. Orpheus,[6] Linus[7] und
Amphion[8] werden nur darum in der
Fabel als wunderthätige Männer die
Durch Gesang und Saitenspiel die Felsen
bewegen, und die wildesten Bestien
zähmen konnten, abgebildet, weil die
Macht der Dichtkunst die felsengleichen Her-
zen ihrer Bürger erweichte, und die
Löwen und Tygern ähnliche Gesinnun-
gen in sanftere und mildere verwan-
delte. Bey den teutschen und allen celtischen
Nationen war der Unterricht für die
Jugend derjenige, welcher ihnen Barden
und Druiden in Liedern und Gesängen
gaben. Von den Griechen weiß man, daß|<17>
unter ihnen fast mit der entstehenden Ge-
sellschafft auch die Dicht-Kunst Lehren ertheilte.
Und wer weiß nicht wie sehr sich die Griechen
und die Römer der Dicht-Kunst des The-
aters bedienten die Sitten zu verbeßern,
und das Volck zu den Absichten zu lencken
die sich die Staats Klugheit vorsetzte? Und
was soll ich von dir sagen mächtige Bered-
samkeit? Ist doch der Redner gewaltsam
wie ein Sturmwind, aufgebracht wie ein
ausgetretener Strom, feurig wie der Blitz
des Himmels. Er donnert, er wettert, und
stürzet in den reißenden Fluthen der
Beredsamkeit alles vor sich hin und vor
sich nieder. Dieß war die unbezwingliche
Macht dadurch die griechischen Redner,
dadurch vornehmlich Demosthen[9] ohne König
zu seyn über seine Bürger herrschte,
dadurch er den Königen und ihren Herren
schreckend ward, davon Philippus be-
kannte,[10] daß er sich mehr für diese Redner
Kunst fürchtete als für jene furchtbaren|<5>
Flotten und Völcker der Athenienser, daß
die Reden des Demosthenes Rüstzeuge
wären, die von weiten seine Anschläge
tödteten und seine Unternehmungen
zernichteten. Denn ich selbst, sprach er,
wenn ich der Versammlung beygewohnet
und diesen heftigen Redner gehört hätte,
würde am allerersten der Meinung ge-
wesen seyn, daß man mir den Krieg
ankündigen müste. Glückselig sind die
Staaten die sich rühmen können noch heute
solche Redner zu haben! Glückselig diejenigen
in welchen der Redner des Heiligthums
den Lastern so schrecklich ist, als jene alten
Redner den Feinden des Vaterlandes wa-
ren. Hier, o ihr Großen der Erde! Ver-
wendet die rühmliche Sorgfalt womit
ihr die Völcker beglücket die euch gehorchen.
Und ihr ihr Eroberer! Die ihr keine
andere Ehre kennt, als die durchs
Schwerdt erworben wird, wißet, daß
selbst diese Ehre, ohne den Beystand der|<19>
schönen Wißenschafften, von kurzer Dauer
ist. Was wird die Welt einstens von
euren Thaten wißen, wenn es keine Dichter,
keine Redner, keine Geschicht-Schreiber giebt
die sie der Nachwelt verkündigen? Längst
würde das Andenken der Helden verloschen
seyn wen es nicht durch so viele vortref-
liche Schriftsteller der Vergeßenheit entzogen
wäre. Denn jene stolzen Trophäen, die
sie sich auf den Ruinen zerstörter Städte
und auf den Leichnamen der Erschlagenen
erbaut haben, sind längstens der Staub
der verzehrenden Zeit gewesen. Und ihre
Ehre würde es auch gewesen seyn, wenn
sie nicht durch die Bemühungen jener großen
und einsichtsvollen Leute gerettet worden
wäre. Cäsar der siegreiche Weltbezwinger,
wäre längst vergeßen, wenn nicht Cäsar
der angenehme Schriftsteller sein Andencken
erhalten hätte. Und selbst der Ruhm der
Eroberer ist das Werck der Wißenschaften.

Notes

  1. Linos (Λίνος), Sohn des Apollon, gilt als Sohn der Kalliope und fungierte als Musiklehrer des Herakles. Wurde auch als der Erfinder der Buchstaben gehandelt, der Herakles das Schreiben beibrachte. Als er ihn einmal zu unrecht bestrafte, erschlug ihn Herakles im Zorn.