D-Q6723

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Kommentar

Transcript

Über die Benutzung der Zeit.
Ein Bruchstück

Ich habe an mir und andern oft die Bemerkung ge-
macht, daß man diejenigen Augenblicke des Lebens,
in denen man auf irgend eine physische oder mo-
ralische Veranlassung – nach einem sanften erqui-
ckenden Schlafe, nach einem anmuthigen Spatzier-
gange, nach einem erhaltenen Lobspruche, nach ei-
ner angenehmen Unterhaltung mit vertrauten
Freunden, mach dem Empfange einer frohen Nach-
richt, nach Verrichtung einer guten Handlung, –
seine geistigen und körperlichen Kräfte in vol-
len Wohlseyn, und in ihrer ganzen Stärke fühlt;
daß man, sage ich, diese glücklichen Augenblicke
meistens – wie man wähnt – die sanfte Wollust|<2>
die ein heiterer Kopf, ein frohes Herz, leichtes Blut
und gestählte Muskeln gewähren, in vollem Maße
zu genießen, und dem Becher dieser unschuldigen
Freude, bis auf den letzten Tropfen auszuleeren.
Ohne Zweifel ist diese Art zu verfahren sehr
gemein, denn sie gründet sich ja auf den allgemei-
nen Hang zum Vergnügen; aber nichts desto
weniger ist sie eben so ungezweifelt ganz fehler-
haft, weil man durch sie nicht nur beste Ge-
legenheit zu gemeinnütziger Thätigkeit versäumt
und die unverkennbarste Aufforderung dazu ver-
nachlässigt; sondern auch weil man noch über die-
ses seines Zwecks, das Vergnügen solcher Augen-
blicke recht vollkommen zu genießen, völlig verfehlt. Beydes
zu beweisen bedarf es kaum mehr als eines Finger-
zeigs auf die Natur der Sache.

Wenn nehmlich durch die göttliche Einrichtung der
Schöpfung, jedem Menschen sein Tagewerk zum besten des Ganzen an-
wiesen ist, wenn Thätigkeit in Erfüllung desselben|<3>
die Bestimmung eines jeden ausmacht; wenn
jeder genau nach dem Maße seiner Kräfte dazu
verbunden ist; so ist es offenbar, daß in dem Be-
wußtsein von Kraft, die dringendste Auffo-
derung liegt; durch gemeinnützige Wirksamkeit
seiner Bestimmung Genüge zu leisten. Wer
also die Augenblicke, wo ein ungewöhnlich starkes
Gefühl seiner Kräfte sein ganzes Wesen mit
einer unnennbaren Wollust überströmt, vor-
beystreichen läßt, ohne sie zu gemeinnützigen
Zwecken zu verwenden, der verfehlt seine Be-
stimmung und vernachläßigt die unverkenn-
barste Aufforderung zu ihrer Erfüllung.

Eben so offenbar ist es nun auch, daß man
bey jener Art zu verfahren seines Zwecks völlig
verfehlt. Die allgemeine Regsamkeit un-
serer Kräfte, welche uns in ein so angenehmes
Gefühl ihres Besitzes und ihrer Stärke wiegt,
was ist sie anders als Aufstreben nach Thätigkeit|<4>
welches Befriedigung sucht, und nur in der Befrie-
digung Vergnügen findet? Wenn wir nun
dem Gefühl von bestrebung unthätig zuse-
hen; wenn wir aus dem irrigen Wahn, daß
Richtung derselben auf einen nützlichen Zweck
unserer Vergnügen stören würde, nicht der Befrie-
digung welche sich jeder regen Kraft von selbst
darbeut, zufrieden sind; müssen wir dann
nicht unsere körperlichen Kräfte zum blosen
laufen und Rennen, und unnützigen Bewegungen
abstumpfen; müssen wir nicht unsere Gedanken
und Empfindungen den Geukeleyen der Phanta-
sie Preis geben, die mit ihren in regellosen Sprün-
gen über tausend Gegenstände hinwegeilt, bis
wir verrückt von dieser Jagd ohne körperlichen
und geistigen Kräfte, deren Gefühl uns so viel
vergnügen machte, erschöpft sind, ohne von ihrem
Dasyen auch nur die geringste Spur nachgelassen|<5>
und unserer Bestimmung uns nur um einen Schritt
näher gebracht zu haben. – Ganz anders
verhält es sich, wenn wir unsern nach Thätigkeit
strebenden Kräften, gleich Anfangs ein Ziel ihrer
Bestrebungen setzen, wenn wir sie zu Erreichung
irgend eines edeln gemeinnützigen Zweckes be-
nutzen. Ihre Dauer wird alsdenn umso
mehr verlängert, je mehr die feste Richtung
welche sie bekommen, das brausende Ungestüm
ihrer Wirksamkeit mäßigt, der Gedanke daß
man seine Schuldigkeit thut, daß man gut han-
delt wenn man sie zu gemeinnützigen Absichten
verwendet, erleichtert ihren Gebrauch, giebt ihrem
Spiele neues Leben, und eröfnet reichhaltige Quellen
neuer Kraft. Wenn aber auch endlich Ermü-
dung die Folge jeder Anstrengung ist, wenn die
Hand sinkt und das Auge sich trübt,
so versieget darum die Quelle des Vergnügens
für den noch nicht, der seine Kräfte in gemeinnütziger|<6>
Thätigkeit verzehrte. Das vollbrachte Tagwerk
steht vor ihm, und das Gefühl seiner Bestim-
mung näher gekommen zu seyn, begleitet ihn zur
süßen Ruhe nach der Arbeit, und zu dem erquicken-
den Schlaf am Ende des Tages. Selbst an dem
großen Abende seines Lebens lächelt er heiter
herab auf die Früchte siener Arbeiten, und
das Bewußtseyn nicht unnütz gelebt zu haben
bereitet ihm frohes Erwachen aus dem Schlummer
der Todesnacht.

./.

Anmerkungen