D-Q6741

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Kommentar

Gleichzeitig Abschiedsrede bei Weggang nach Jena. Das Thema formulierte Rudolph Zacharias Becker (Henricus Stephanus) im 1 Stück seiner Deutschen Zeitung (7.1.1785), S.1-2 wie folgt angeblich nach einem Zitat der alten Ägypter, die so über Könige und Knechte geurteilt hätten:

Der Werth der Jahre, wie der Menschen liegt aber in nichts anderm, als in ihren Thaten – die man an ihren Folgen erkennt: und der richtigste Maaßstab für den Werth menschlicher Dinge ist menschliche Glückseligkeit; über deren Natur uns die Vernunft ohngefähr die folgende Belehrung ertheilt“

"1) Das Menschengeschlecht überhaupt soll alles, was die Erde mit dem angrenzenden Bezirk des Weltalls für den Menschen Brauchbares in sich schließt, nach und nach entdecken, erkennen, lieben, bearbeiten, verschönern und genießen; auf diese Art seine Fähigkeiten, Kräfte und wohlwollende Neigungen immer mehr ausbilden, und – glücklich werden.

2) Wenn nun der einzelne Mensch das Nothwendige durch mäßige Arbeit erlangt, und noch Zeit und Kräfte zum Genuß übrig behält; wenn ihm jede höhere Anstrengung oder Beraubung einen größeren Lohn und höhere Freuden gewähret; wenn er sein Tagewerk mit Hinsicht auf ein unsterbliches Leben verrichtet und die unvermeidlichen Leiden des Gegenwärigen|<2>durch den Glauben an einen allwweisen und allgütigen Vater versüße; wenn er fühlt, daß er auf eine solche Art wirklich immer besser, edler und zufriedener wird; dann besitzt er jene menschliche Glückseligkeit.

3) Er ist nun Gatte, Vater, Mutter oder Kind, Herrschaft oder Dienstbote, um sie im Kreise einer Familie wechselweise zu finden und zu verbreiten; und er ist

4) Bürger eines Staates, um es mit der Hülfe einer großen Anzahl seines Gleichen darin weiter zubringen, als wenn er einsam lebte. (Darum arbeitet da jeder für alle, und alle für jeden; so viel ein jeder verdient, so viel und nicht mehr soll er genießen; und was einer einbrocket, sollte er ausessen. Wenigstens erwarten alle die Menschen aller Klassen und Stände , die auf einem Fleck beysammen wohnen, und eigentlich den Staat ausmachen, dieses mit Recht von den Obern und Gesetzen, denen sie gehorchen.)

5) Die Völker sollen neben einander auf der Erde wohnen, wie Familien eines Stammes. Da jedes nach Beschaffenheit seines Wohnplatzes verschiedene Früchte baut, verschiedene Künste treibt und sich verschiedene Einsichten erwirbt: so sollen sie das, was jedes Vorzügliches hervorbringt, gegen den eigenthümlichen Ueberfluß der andern vertauschen: so daß von allen alles genossen werde, was der reiche und gute Vater seinen Kindern zum gemeinen Erbgut übergeben hat – – Das Vieh mag für sich allein auf seinem Flecke grasen!“

Transcript

Die Kürze des menschlichen Lebens, ist immer
so weit wir uns in die Zeiten des Alterthums
zurück denken können, ein Gegenstand der
Unzufriedenheit, und der Klagen der Sterblichen
gewesen. Man hatte kaum angefangen Erfah-
rungen zu machen, als sich auch schon diese darun-
ter befand. Jeder, der eine beträchtlichen Anzahl
von Jahren zurücke gelegt hatte, muste das Be-
känntniß ablegen, daß ihm die ganze vergangene
Zeit seines Lebens als ein Traum erschien; und
überhaupt liegt es in unserer Natur, daß
wir etwa ein Jahr, welches wir uns als zukün-
ftig vorstellen, für einen weit größeren Zeitraum
ansehen, als alle diejenigen die wir schon durch-
lebt haben; und wenn wir dann endlich
am Ziel unserer Laufbahn stehen, so glauben
wir sie erst angetreten zu haben, und
beklagen uns über ihre wenige Dauer.|<2>

Wir fühlen aber auch zugleich, daß daß Ziel un-
sers Erdenlebens, nicht zugleich das Ziel unseres
ganzen Daseyns seyn kann. Unzählige Gründe,
und am meisten unser eigenes Gefühl, sind
uns Bürge für diese Wahrheit. Auch finden
wir in der Geschichte, wo weit sie uns in die
ältesten Zeiten zurückführt, und so weit wir
ihr in die neuesten folgen, daß alle Nationen,
auch die am wenigsten aufgeklärten, mindestens
einen dunklen Begriff von Unsterblichkeit
hatten, und wenigstens eine entfernte Hofnung
auf dieselbe richteten. Freilich war der Ge-
brauch, den man von dieser wichtigen
Ueberzeugung machte, unendlich verschieden
und der Begriff zukünftiger Glückseeligkeit,
so wie das Religionssystem überhaupt nachdem
besondern Bedürfniß und dem Geist einer
jeden Nation geformt. Daher die Verschieden-
heit der alten deutschen und nordischen Fehl-
lehre von der griechischen und römischen.

Doch ich nähere mich wieder meinem
gegenstande. Die zeit die wir hier zuzu-
bringen haben, flieht schnell, und wenn
sie entflohe ist, bleibt uns nichts mehr|<3>
von ihr übrig, alsdas Bewustseyn, daß sie nicht
mehr ist. Haben wir sie nun dem Endwecke
gemäß angewendet, wozu sie uns verliehen war,
haben wir jeden Zeitpunkt unseres Lebens mit
Handlungen bezeichnet, die unser oder unserer
Nebenmenschen wahres Wohl beförderten, und
die uns noch zeichnet des Grabes begleiten,
o so sind sie nicht ganz für uns entflohen, jene
eilenden Jahre; wir haben sie benuzt, und
das wesentlichste von ihnen zurück behalten
Nichts hingegen, gar nichts als der quälende
Vorwurf sie verlohren zu haben, bleibt uns
von derjenigen Zeit übrig, für die wir
keine nüzliche Handlung aufweisen können,
die wir den Bedürfnissen der Natur, unseren
Launen, oder unserm Widerwillen für An-
strengung aufgeopfert haben. Wie thöricht
handelt nicht der, der Tage und Nächte mit un-
ersättlicher Habsucht am Spieltische sizt,
und die Zeit, die ihm zu Erweiterung
seiner Kenntnisse, zum Dienst seiner
Nebenmenschen verliehen wart, mit|<4>
gemalten Blättern vertändelt, oder der, dessen
stete Beschäftigung es ist, in Cirkeln jenes
Gelichters die edle Zeit durch sinnlose Unterhaltungen
zu tödten. Gewiß für diese Menschen ist die
Zeit völlig verlohren, es ist so gut, als ob sie
gar nicht gelebt hätten.

Ein jeder ist seines eigenen Glückes Schmidt,
sagt Cicero,[1] und sagts mit Recht. Es ist eine
angenehme Bemerkung, diesen Satz auch auf die
Länge des menschlichen Lebens anwenden zu
können. Es ist offenbar, daß unter Leben in
diesem Sinn, nicht die bloße physische Existenz
kann verstanden werden, sondern daß wir
dann blos leben, wenn wir uns würksam
zum Guten beweisen; nun hängt es von uns
ab, keine Gelegenheit zum Guten unbenutzt vor-
über gehen zu lassen, und so viel nüzliches
zu würken, als wir können, also sind wir in
dieser Rücksicht im Stande die Dauer unserer
Lebenszeit zu verlängern, oder zu verkürzen,
je nachdem wir einen guten und thätigen, oder
einen üblen und nachlässigen Gebrauch da-
von machen. Freilich bedarf|<5>
unsere Seele si wohl als unser Körper nach
jeder anhaltenden Anstrengung neuer Ruhe und Erho-
lung, welche die erschlafften Werkzeuge wieder
zu neuen Verrichtungen tüchtig macht. Bey
unerm Körper ist dieß der Schlaf, denn da ruhen
alle Organe von ihren verschiedenen Verrichtungen
aus, und lassen keine Eindrücke von aussen
mehr zu der Seele gelangen, wodurch diese
auch in einer Art von Apathie versetzt wird, welche
von heilsamen Würkungen für sie ist. Die
Seele findet ihre Erholung theils in dieser Ruhe
des Körpers, theils in mancherley Beschäftigungen,
welche keine Anstrengung erfordern, und so ver-
schieden sind als die Subjecte, indem eine
Sache diesem viele Anstrengung kostet, welche
dem einem andern wahre Aufheiterung ist.

Seele und Körper können nicht ohne Ruhe
und Erholung bestehen, aber das Uebermaß
derselben, wird eben so schädlich, als der gänz-
liche Mangel, und die Zeit die wir auf die
Befriedigung dieser Bedürfnisse wenden,|<6>
geht uns für unser Leben d[as] i[st] für unsere
nüzlichen Beschäftigungen verlohren. Wir
haben also um so mehr Ursache diese auf das
nothwenige und unentbehrliche einzuschränken,
um desto mehr Zeit zu reelen und nüzlichen
Dingen übrig zu behalten.

Der Begriff der Zeit, ist überhaupt ein so relati-
ver, und für uns so wenig heller Begriff, daß
wir uns, recht betrachtet, gar keine deutliche
Vorstellung von demselben machen können können, und
durch die Allgemeinheit dieses uns von Jugend auf
bekannt gewordenen Begriffs, von weiteren
Nachforschungen über denselben abgehalten werden.
Nur diejenigen, die sich durch philosophischen Sinn,
und warme Begierde nach Erweiterung ihrer
Kenntnisse vom gemeinen Haufen unterscheiden,
nur diese sind es, die über diesen Begriff tief
nachgedacht, und ihn in dasjenige Licht versetzt haben,
dessen er fähig ist, das aber demohngeachtet dun-
kel genug bleibt, um uns einen bessern,
weniger schwankenden Maasstab für die Dinge|<7>
wünschen zu lassen, die uns, wie unsere Lebenszeit,
in so vielen Rücksichten wichtig sind; und welchen
bessern und schicklichern könnten wir wählen, als
unsere nüzlichen Beschäfftigungen! Ich habe
schon berührt, daß alle diejenigen Zeiträume
unseres Daseyns, die nicht mit solchen Handlungen
ausgefüllt sind, entweder ganz unnüz für uns
vorbeygehen, und anzusehen sind, als ob sie
gar nicht da gewesen wären, oder doch nur als
Mittel zur Erneuerung unserer Kräfte ange-
sehen werden müssen, so, daß uns aus ihnen
unmittelbar nichts reeles und nützliches er-
wächst. Mit Recht also müssen diese von der
ganzen Summe unserer Lebenszeit angezählt, und
nur diejenigen dazu gerechnet werden, die wie un-
sere nüzlichen Beschäftigungen zum Maasstab
unserer Lebenszeit annehmen. Sehr aufmunternd
muß es uns dann seyn, daß wir gleichsam selbst
Herr über unsere Lebensdauer sind, und nie
werden wir mehr über ihre Kürze klagen, da es in
unserer Gewalt steht, sie zu verlängern.|<8>

Wenn ich es wagte, meine Erlauchten Brüder, mit diesen
wenigen Bemerkungen noch einmal in Ihrer, der Weisheit
geheiligten Versammlung aufzutreten. So war es noch
ohne das Gefühl meiner Schwäche, nicht ohne die
Überzeugung, wie sehr wir noch nicht hinlänglich ge-
läuterten und geordneten Begriff Ihrer Nachsicht und ihrer ferneren
Hülfe bedürfen. Schmerzlicher wird mir durch dieß Gefühl die
bevorstehende Trennung von Ihnen, verehrungswürdige
Männer; und nur der Gedanke beruhigt mich, daß die
heilsamen Würkungen unserer erhabenen Verbindung
mich auch an den künftigen Ort meines Auffenthaltes
begleiten, und ich auch abwesend unter Ihrer Leitung
jenem edlen Zwecke, der Vervollkommnung meiner
selbst immer näher rücken werde.

Ewig wird dieses Band, womit ich an so viele
Edle geknüpft bin, ewig wird es meinem Herzen
heilig bleiben, und nur mit meinem Leben
wird der Dank verlöschen, den ich Ihnen schuldig
bin, die Sie meine schwachen Kräfte für würdig
hielten, an Ihren großen Zwecken zu arbeiten.
Leben sie wohl, meine verehrungswürdigen Brüder,
bewahren Sie mir auch abwesend Ihre Gewogenheit,
Ihre Liebe; und entschädigen Sie mich dadurch
wenigstens zum Theil für die traurige Nothwendigkeit
Ihres belehrenden Umgangs, Ihres ermunternden
Beyspiels wenigstens auf einige Zeit entbehren
zu müssen

St. Evremont

Anmerkungen

  1. In einem Appius Claudius Caecus, dem römischen Konsul der Jah-re 307 und 296 v. Chr., zugeschriebenen Gedicht heißt es: „fabrum esse suae quemque fortunae“.