D-Q6592

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Commentary

Spannend hier das Zusammenspiel mit den Fragen an den Autor und seinen Antworten in SK13-024 und SK14-029.

Thematisch bewegt sich Cassiodor/Ewald im Rahmen der aktuellen Debatte um Physiognomie und die Erkenntnis des Menschen am Körperbau und an der Körperhaltung. Bezüge auf Lavater und andere Autoritäten des physognomischen Diskurses setzt er jedoch nicht. Dies könnte einfach daran liegen, dass Ewalds Annahmen trotz einiger Übereinstimmungen doch deutlich anders liegen als bei Lavater. Während letzterer eine spekulative, in nuce determinstische und zugleich esoterisch fundierte Physiognostik vertritt, geht es bei Cassiodor/Ewald darum, dass man das Äußere nur verändern kann, indem man auch das Innere verändert. Die dahinter stehende Annahme, dass sich das Wesen/die Seele im Äußeren spiegele, scheint mir aber zugleich allgemeiner und älter als Lavaters spekulative Wesenserkennung qua Gesichtsschemata zu sein. Es geht quasi um das Verhältnis innerer zu äußerer Schönheit, wobei erstere wichtiger ist als letztere (was man z.B. auch in Adalbert Stifters Brigitta verhandelt findet).

Hogarth ist mit seinen Menschenstudien und seinem Wissen über Proportionen erwähnt, wir bewegen uns im Rahmen der Praxis.

Der Aufsatz arbeitet sich an der Identität von Äußerem und Innerem ab. Eingangs der Vermerk, dass äußere Bildung keineswegs gewährleistet, dass derjenige, der sie aufweist, sich Hoffnungen auf eine Karriere entsprechend der durchscheinenden Gaben machen kann.

Wichtiger als das Ebenmaß und eine kalte Regelmäßigkeit sei ohnehin das Erscheinen in Haltung, Bewegung und Ausdruck. Einen Irrweg seien die gegangen, die vermutet hätten, sie könnten am Äußeren durch Kontrolle ihrer Haltung und durch Manipulationen wie Anspannung, um die Gesichtsfarbe zu ändern, einen anderen Eindruck von sich machen als ihr Körper ihn machen würde. Bei ihnen sei zu den bestehenden und durchscheinenden Lastern das neue der Heuchelei gekommen.

Vielmehr gelte es, bei der Menschenbildung von innen zu wirken und dafür zu sorgen, dass sich die äußere Erscheinung der geänderten Inneren Bildung langsam anpasse.

Selbstkontrolle kommt hinzu, mehrfach der Rekurs auf die Beobachtung im Spiegel, die er den Zuhörern ans Herz legt.

Das ganze Thema der Rede steht in einem engen Zusammenhang mit der Frage der Illuminaten nach Veredlung der Menschheit. Es bindet diese an bürgerliche Ideale. Der gebildete Mensch, ein Mensch der an Körper und Geist gebildet ist, wird höhere Chancen haben, Reichtum zu erlangen.

Olaf Simons / Markus Meumann

Transcript

Recept zur Veredlung unserer Bildung

Es ist bekannt, daß die Empfehlung eines Men-
schen und der Eintritt in die Laufbahn seines irdi-
schen Glücks nicht selten von der Beschaffenheit seiner Ge-
sichtszüge und seines ganzen äußerlichen Anstands abhängt.
Wer sich nur ein wenig mit Menschengeschichten und mit
dem Laufe der Welt bekannt gemacht hat, wird mir
dieses ohne weiteren Beweiß glauben. Aber Regelmä-
sigkeit der Gesichtszüge und des Gliederbaus allein kön-
nen keinem Menschen die Versicherung geben, daß er
dereinst eine seinen übrigen Umständen, seinem Reich-
thum, seiner Geburt, seiner Verbindung gemäse Rolle
in der Welt spielen werde; eben so wenig als unregel-
mäsige Gesichtszüge und ein Gliederbau, deßen ein-
zelne Theile untereinander nicht harmonieren, dem
Menschen, an welchem sie sich befinden, die Hoffnung
seines künftigen Glücks zu benehmen im Stande
sind. Er kömmt dabey auf die Regelmäsigkeit des
Umrisses im Ganzen und nach den einzelnen Theilen
nicht an. So weit hat es die regelmäßigste Gestalt
noch nicht bringen können, daß man mit ihr, so bald
man sie sieht und denkt, das gute Vorurtheil des ge-
sunden Menschen-Verstandes, des Scharfsinns, des
Witzes so verbunden hätte, wie man bey dem Anblicke
kleiner verwachsener äsopischer[1] Gestalten zu thun
beynahe gewohnt ist. Eine kalte leblose Regelmäsig-
keit hat bey meisten nicht das Anziehende und Em-
pfehlende, das Munterkeit und Feuer und ein ge-
wißes unnennbares Etwas, das auch die unregelmä-|<2>
sigsten Gesichter mit uns aussöhnt und uns ihnen
geneigt macht, von sich her verbreiten; ob man gleich
auch wieder bekennen muß, daß verzogene Gesicht[s-]
bildung und verschobene Gestalten, bey dem
Abgange jener edleren Eigenschaften, an deren
Stelle Dummheit, Bosheit und Laster treten, un-
ausstehlich werden.
     Blühe also die Jugend in seinem Angesi[cht]
gleich der Blüthe des Apfelbaums; von deinen Schu[l]-
tern walle das blondeste Haar; die Theile deines
Gesichts stehen im schönsten Ebenmaaße; die Run-
dung deines schlanken Körpers winde sich so wellen-
förmig, daß sie selbst die Probe eines Hogarths au[s]-
hält – und du bist doch noch weit von der wahr-
ren Schönheit entfernt! – Ich wehre dir es nicht
vor den Spiegel zu treten; aber sieh dich nur recht an[:]
Findest du ein Heiteres von dem reinen hellen in-
neren Lichte des Verstands erleuchtetes Auge,
oder ist es trübe und verstandlos? Ist es schnell
zur einschauenden Aufmerksamkeit fertig, ode[r]
starret es schaftruncken ins öde düstre Leere
hin? Ist deine Stirn zur Thätigkeit gestimmt un[d]
aufgezogen, oder muskellos und ohne Bewegung,
ein Zeuge deiner Gleichgültigkeit und des Mangel[s]
an Theilnehmung auch bey den interessantesten
Gegenständen? Stimmt dein Inneres, deine Zü[ge]
zur Freundlichkeit und Menschenliebe oder sin[d]
die Muskeln deines Gesichts von Hochmuth auf-
geblasen, oder in krampfhaften Bewegungen,
eine Folge ungestümer, unordentlicher Leiden-
schafften und Begierden? Regt sich ein thätige[r,]|<3>
warmer, fester kräftiger Geist in deinen Gliedern, oder ver-
räth ihre träge Bewegung, dein auf die Brust hinabsinken-
des Haupt, deine schlaffen Arme deine schleichenden Füße,
deine träumerische Rede, die inwendige Armuth an
Geist, Anspannung aller geistigen Kräfte und Mangel
an Talent? – Wenn du dich aus diesem Gesichtspunckte
betrachtest, so habe ich nichts dagegen, daß du dich im
Spiegel beschauest; es ist der ächteste, beste und belegren-
ste Gebrauch, den du von diesem Hausrath, der gemei-
niglich nur der Eigenliebe, der Eitelkeit und dem
Tand gewidmet ist, machen kannst. – Es ist eine alte
Bemerkung, daß unser Gesicht mitten im Aufbrausen
heftiger Leidenschaften, verunstaltet werde; und
die Sittenlehrer haben vorgeschlagen, daß man Perso-
nen die sich eben in einem solchen Zustand befinden,
einen Spiegel vorhalten soll, um die Leidenschaften
und unordentlichen Bewegungen, da sie das Gesicht so
häßlich machen, verabscheuen zu lernen. Aber es
sind nicht blos die gröberen, auffallenden Bewegun-
gen des Herzens, die sich auf dem Gesicht abdrücken,
auch die stilleren, die in keine Heftigkeit ausfahren
und verschloßen bleiben; Neid, Misgunst, Rachsucht,
Schadenfreude, Lieblosigkeit, Habsucht, Geitz, Eigendün-
ckel, Stolz und Anmasung, und wie sie weiter heißen,
laßen unverkennbare Spuren in den Muskeln des Ge-
sichts und der Art der Bewegung und Tragung des
Cörpers zurück; und diese Züge werden zuletzt sogar
charakteristisch, stet und auszeichnend, wenn diese
Zustände des Herzens durch öftere Wiederholung zur
Gewohnheit werden, und bey den geringsten Anläßen
immer wieder in das Her zurückkehren.
     Viele die sich von den Nachtheilen überzeugt hatten,
die ihnen ein solcher ihrer Ausenseite anklebender un-|<4>
rühmlicher Ausdruck und Charackter in ihren bürgerli-
chen Verhältnißen zuziehen muste, haben diesen Schaden
dadurch zu bessern geglaubt, daß sie beständig auf die
Bewegungen ihres Cörpers und ihres Gesichts aufmerck-
sam waren, und ihre Mienen und Glieder allmäh-
lich daran gewöhnten, gerade diejenige äußerliche
Bewegung auszudrücken, die ihrem eigentlichen und
ihnen zur andern Natur gewordenen nachtheiligen
Charackter entgegen gesezt war. Nun verzog der Men-
schenfeind sein mürrisches finsteres Gesicht in Lächeln;
der steife Stolz wölbte den Rücken und schnitt Compli-
mente, der Neid trieb sich, seine Gelbsucht zu bedecken,
durch Anstrengung Blut ins Gesicht und verzog es
in theilnehmende Freude; der Dummkopf riß die
kleinen Augen auf, schloß den offenen Mund zu und run-
zelte die Stirn zu Falten des Nachdenkens; der Träge,
Unthätige, Gleichgültige setzte alle Glieder bis zum
Schweiß in Bewegung und spannte alle Muskeln des
Kopfs zur Aufmerksamkeit auf die geringfügigsten
Gegenstände der gesellschaftlichen Unterhaltung an
daß sich die Hirnhaut bewegte und die Haare sträub-
ten. – Das war aber, wie es der Erfolg wieß,
eine gar schlechte Methode, weil sie von außen hi-
neinwärts arbeitete, wie der Künstler an dem
Klotz, das er zum Götzen bilden will. Die Arbeit ge-
rieth auch darnach. Denn statt wahrer Gestalten,
erschienen lauter Grimassen und Karrikaturen,
und das ganze saubere Gefolg von Gecken, Narren,
Heuchlern und Scheinheiligen, die, wie bekannt,
alle verächtlich, ja sogar so verächtlich sind, daß sie
sich untereinander selbst verachten,. Sie hatten durch
dieses Schnitzwerk im Grunde ihre Sache noch schlimmer|<5>
gemacht, als sie vorher war; sie hatten das Schlechte ins
Schlechtere verwandelt, sie blieben nicht allein, was sie
zuvor gewesen waren, und wurden noch Thoren und
Heuchler oben drein.
     Da wir keine Holtzblöcke, sondern Menschen sind, so
muß man die Methode gerade umkehren; man muß
von innen heraus arbeiten, weil die Federn und Fibern
und Nerven, aus welchen unsere Oberfläche zusammen
gewebt ist, nicht in der Luft hängen, sondern in unserem
Inwendigen zusammen verbunden sind. So wie sie also
inwendig zusammen angezogen werden, zucken sie
auch auswendig, und wenn sie recht und richtig und har-
monisch, und den Menschen wohlgefällig gucken sollen,
muß man sie inwendig geschickt anziehen. – Man
räume also in seinem Kopfe auf; vertreibe die Nacht
die Unwißenheit der Irrthümer und des Aberglaubens
durch fleißiges Lernen, Lesen, Nachdenken und Auf-
mercksamkeit; man suche die natürliche Trägheit und
das Phlegma des Bluts durch physische und geistige Mit-
tel zu überwinden, den unterdrückten Geist frey zu
machen und durch den Gebrauch einer angemeßenen
Diät, öffteren Bewegung, und geistvollen, herzerheben-
den Gedichten und Schriften zu stärken und zu nähren;
man habe ein stets wachsames Auge auf alte innere
Bewegungsgründe und Absichten unserer Handlungen,
auf alle Wünsche, Triebe, Neigungen, Begierden, Leiden-
schafften unseres Herzens und auf ihre Veranlaßungen
und schädlichen Folgen, mit dem festen Vorsatze, sie
nicht allein in Zukunft zu vermeiden, wenn wir
finden, daß sie mit den ächten und reinen Grundsätzen
einer gesunden Moral nicht bestehen können, sondern
strebe auch festen, standhaften Muths dem Strom des|<6>
Bluts entgegen und steure den entgegengesezten Tugen-
den zu u.s.w. Und die alten Merckmale unserer
vorigen Unwissenheit, Laster, Thorheiten und Trägheit,
werden sich, allmählich auf dem Gesichte verwischen,
Auge, Stirn und Wangen werden heiterer, heller, freund-
licher, geistliger, der ganze Umriß unseres Cörpers ge-
schmeidiger, und alles Bewußtseyn von Unregelmäsig-
keit vertilgt werden.
     Wir suchen klüger, einsichtsvoller und beßer zu
werden, um zu Reichthum, Bequemlichkeit Ehrenste[l-]
len und Ruhm zu gelangen. Wollen wir Einsichten[,]
Weisheit, Tugend und Wohlwollen nicht um ihrer selb[st]
willen suchen, so laßt es uns zum wenigsten thun, um
unsern Körper in abständiger edler Zierde zu erhal-
ten; denn es wohnt ein Gast in ihm der ist unsterb-
lich
Cassiodor
Vorgelesen
in der Minerv. Versamml. zu Syrakus,
 den 6den des Tir. 1155.

Notes

  1. Äsop, griechischer Dichter von Fabeln und Gleichnissen, um 600 v. Chr.