D-Q6594

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Commentary

Replik auf 1783-12-12 August von Sachsen-Gotha-Altenburg (Walther Fürst): Zu Garves Übersetzung von Ciceros Abhandlung über die Pflicht und die Auflösung des Widerspruchs zwischen Pflicht, Nutzen und und Tugend.

Das Interessante ist hier wohl der Wettbewerb um Konsens. Über die ersten Seiten hinweg wird der gelobt, der das Thema so wählte, dass es seinen „Einsichten und Herzen Ehre einlegt“. Es geht hier nicht um Kontroverse, sondern um eine Demonstration. Oder es muss ausführlich gelobt und Übereinstimmung demonstriert werden, bis man es dann wagt, am Ende doch zu widersprechen – das scheint eine durchaus frühneuzeitliche Tradition zu sein, zumal wenn es ein Fürst ist, dem man widerspricht.

Widerspruch bzw. Differenz kommt auf S. 6 auf, wenn es darum geht zu bestimmen, was das Gewissen ist. Anders als August v. Gotha, der einen Unterschied zwischen dem „Urteil des Verstandes“ und dem „Ausspruch des Gewissens“ macht, sieht Ewald das Gewissen als „eine Vorrichtung des Verstandes“ an.

Spannende Passage am Schluss, da es gilt, Ciceros Legitimation des Tyrannenmords aus der Welt zu diskutieren Hier habe nicht der Philosoph gesprochen – und allein um die Suche des idealen philosophischen Menschen gehe es (so das vorige) – sondern der römische Republikaner, der seine eigene Perspektive auf die bürger-lichen Freiheit hatte. Die aktuelle Debatte sei da weiter. Ein Tyrann, der dem Volk und dem Staat schade müssen durch Gesetze „unschädlich“ gemacht werden, und das könne nicht heißen, dass er wie in Athen einem Blutgericht ausgesetzt werde. Hier müsse die Menschlichkeit voranstehen. Die moderne Philosophie sei darin der stoischen allein Überlegen, dass sie die Menschlichkeit als höheres Ideal anerkenne.

Transcript

Der Antheil, den wir in der letzten Versammlung an dem
Gegenstande eines Aufsatzes unsers erleuchteten Bruders Fürst Wal-
der, und von der Art der Ausführung desselben nahmen, veranlaßt
mich, das Andenken von denselben heute wieder zu erneuern, und
Ihnen meine Gedanken darüber mitzutheilen. Er betrift den Fall
des Widerspruchs zwischen Pflicht und Vortheil, welchen Cicero
in seinem dritten Buche von den Pflichten abgehandelt hat. Die
Veranlassung zu diesem Aufsatze bekam der erleuchtete Bruder
durch die Übersetzung dieses Werkes des Cicero, welche Herr Pro-
fessor Garve[1] vor kurzem geliefert hat, und die eben so vortref-
lich ist, als die Anmerkungen und Abhandlungen, womit er
seine Übersetzung begleitete, populäre Philosophie und auffal-
lend wahre und für den Menschen höchst wichtige Bemerkungen
enthalten.

Vor allen Dingen finde ich für nöthig, die erleuchteten Brüder auf
die Wichtigkeit des Gegenstands, auf welchen die Wahl des erhabenen
Verfassers fiel, aufmerksam zu machen. Der Gegenstand selbst
betrift das Honestum und Utile, oder die Tugend, die Rechtschaffen-
heit, oder überhaupt die moralische Pflicht und den eigenen Vortheil oder
Nutzen; insonderheit aber die Frage: Können Pflicht und Vortheil
getrennt werden? Und welches von beyden, Pflicht oder Vortheil,
ist in Fällen, wo sie zusammen stoßen, dem anderen vorzuziehen?
Wem an der Veredelung der moralischen Gesinnungen der Menschen nur
das Geringste gelegen ist, dem wird die Wichtigkeit dieser Frage
in ihrer ganzen Stärke und in ihrem ganzen Umfange einleuch-
ten. Man kann sagen, daß sie schon von denjenigen, der sich
blos mit ihrer Untersuchung beschäftiget, ihren mächtigen Ein-
fluß erwiesen habe. Sie ist ohne Zweifel eine der wichtigsten Ge-
genstände der Sittenlehre, indem sie den Menschen nicht allein|<2>
schon beym ersten Anblick, auf sich selbst und auf seinen innern
sittlichen Zustand aufmerksam macht, welches schon ein großer
Schritt zu seiner Vervollkommnung ist, sondern auch den nach-
denkenden mit ihrer Auflösung beschäftigten Verstand, ganz
sicher den Mitteln und Wegen entgegen führt, wodurch er in
den Stand gesetzt wird, in Fällen, wo Pflicht mit eigenem Vor-
theil zu streiten scheinet, eine standhafte und bestimmte Wahl
zu treffen. Denken Sie sich, meine Brüder, diese Samen
unter die Bürger des Staats ausgesäet, wie lachend müste der
Anblick da seyn, wo er Wurzeln gefaßt hätte! Wohlthätige,
menschenfreundliche Gesinnungen eines gegen alle und aller
gegen einen; die Bande der Freundschaft und Blutsfreundschaft
enger und fester geknüpft; oder, großmüthige Aufopferungen
ihres eigenen Vortheils zum Vortheil anderer; wechselseiti-
ges, Vertrauen in die Zusage und Versicherungen, beruhigen-
des, wonnevolles Gefühl beym Bewußtseyn eines kleinen Ver-
lustes, der dem anderen nützte; Trieb und schelle Entschlies-
sung zu wohltätigen Handlungen; in aller Seelen das le-
bendige, unbeschreibliche Gefühl der eigenen sättigenden Be-
lohnung der Tugend, die fremden Lohn für nichts achtet! Ge-
wiß, meine Brüder! Ich habe Ihren Beyfall, wenn ich, mit
Ihnen diese Scene in Gedancken gegenwärtig, sage, daß
dieser Gegenstand wichtig sey, daß er noch immer wichtig blei-
be, wenngleich diese Scene in der würcklichen Welt vor un-
sern Augen verschwände, und kein Merkmal ihres da-|<3>
seyns mehr vorhanden wäre. Ja, er bleibt so lange an
und für sich selbst wichtig als es möglich ist, ihn mitten un-
ter dem Volke in Anwendung zu bringen. In ihm versam-
meln sich, wie in einem gemeinschaftlichen Mittelpunkte
alle Grundsätze der Sittenlehre, denn er schließt nicht allein
den Satz in sich, daß man um der Tugend selbst willen tu-
gendhaft seyn müsse; sondern auch den, den die Natur dem
menschlichen Verstande mit unverkennbaren unauslöslichen
Zügen eingegraben hat: was du nicht willst, das andere
dir thun sollen, das thue du ihnen auch nicht, und was
du willst, das andere dir thun sollen, das thue auch du
ihnen. So ist der Gegenstand beschaffen, auf welchen die
Wahl unseres, ich erlaube mir die Sprache des Herzens, in-
nigst geliebtesten Verfassers fiel, eine Wahl, die nicht
glücklicher seyn konnte, und seinen Einsichten und Herzen
gleiche Ehre macht. Ich will Ihnen nunmehr die Absicht
des Aufsatzes in frisches Andenken bringen, die Art, wie
dieselbe ausgeführet worden, angeben, und dann einige Be-
merkungen darüber machen. Cicero sagt im 3ten Kapitel
des 3ten Buchs, nach der vortreflichen Uebersetzung des
Herrn Professors Garve: „Sokrates soll oft dem ge-
flucht Leben, welches zuerst diese von Natur unzertrenn-
lich verbundenen Dinge (nemlich Pflicht oder Tugend und
Vortheil) von einander gerissen habe. Diesen Sokra-
tischen Ausspruch, setzt er hinzu, haben die Stoiker derge-|<4>
stalt beygepflichtet, daß sie es zu einem Grundgesetz angenom-
men haben, daß alles, was moralisch gut ist, auch nützlich, und
nichts nützlich sey, was nicht moralisch gut ist. (Garve S. 205)
So vortreflich Herr Garve in der Abhandlung über diese Stel-
le die Begriffe von Pflicht und Vortheil nach dem gemeinen
Redegebrauch aus einander setzt, und ihre Verschiedenheit zeigt
so thut er doch den Stoikern unrecht, wenn er S. 17 der An-
merkungen zum dritten Buche der Pflichten behauptet, daß
in jenem Grundsatze ein Mißverständniß sey. Ohne
Zweifel ist es diese Stelle, die unserm erhabenen Verfasser auf-
fiel, und Ihm Anlaß gab, jene moralische Frage: Kön-
nen Pflicht und Vortheil getrennt werden, und kann je
der Vortheil der Pflicht in Collisionsfällen vorgezogen wer-
den? näher zu untersuchen und aufzulösen. Der Gang
der Ideen ist dieser: Rechtschaffenheit oder Gerechtigkeit ist der
Grund aller guten Handlungen; es kömmt also nicht auf
ein Urtheil unsers Verstands, auf größere oder gerin-
gere Einsichten in die Lage der Dinge und Umstände, son-
dern vielmehr auf den Ausspruch unsers Gewissens an,
um in zweifelhaften Fällen zwischen Pflicht und Vor-
theil eine Wahl zu treffen. Bey heftiger Gährung der
Leidenschaften schweigt das Gewissen gänzlich, und in
Ansehung eines in diesem Zustande befindlichen Menschen
kann gar keine Frage von einer solchen Wahl seyn;
an ein ihm beywohnendes Bewustseyn eines Widerspruchs
oder Streits zwischen Pflicht und Vortheil ist gar nicht|<5>
zu denken. Er weiß gar nicht davon; folglich ist der
Fall, von dem hier die Rede ist, auf ihn nicht im gering-
sten anwendbar; sondern es werden hier blos schwache,
unschlüssige Menschen vorausgesetzt, welche zwar das Gu-
te wünschen und wollen, die aber noch zu sehr mit ihrem
eigenen Vortheil beschäftiget sind, ihn daher oft an die
Stelle des Guten setzen, und nicht wissen, wo und
wie sie das Gute finden sollen. Um also zu erfahren, so-
wohl was wahrhaft gut oder besser sey, als auch, wie
man es anzugreifen habe, wenn es in zweifelhaften
Fällen, wo Pflicht und eigener Vortheil nicht auseinan-
der kommen können, darauf ankömmt, eine sichere
und bestimmte Wahl zu treffen, thut der erleuchte-
te Bruder den Vorschlag, man solle sich an die Stelle un-
sers Nächsten, oder des geliebten Vaterlandes, oder des
gesammten Menschengeschlechts setzen, oder wenigstens
sich einen unserer Nebenmenschen in unserer gegen-
wärtigen Lage denken und dann sich selbst fragen:
wenn unser Nachbar das würklich gethan hätte, was
wir zu vollziehen geneigt sind, was würden wir von
ihm denken? Würden wir ihn für einen starken
oder schwachen, weisen oder thörichten, tugendhaften
oder lasterhaften Mann halten? Nach einer so leich-
ten Veränderung der Person werde dann die Pflicht
über den Vortheil schnell den Sieg erhalten.

Diesem gründlichen Räsonnement trete ich im Gan-|<6>
zen bey, nur in dem kleinen Umstande gehe ich davon ab, daß
ich keinen Unterschied zwischen Urtheil des Verstandes und das,
was man Gewissen nennt, mache. Das Gewissen ist eine
Vorrichtung des Verstandes, der ein Urtheil über Bewegungen
des Willens (der selbst auch eine Modifikation des Verstandes ist)
oder über bereits vollbrachte Handlungen fället; und sie
entweder tadelt, oder ihnen seinen Beyfall schenkt. Dieser
Beyfall erregt ein angenehmes, jener Tadel aber ein unan-
genehmes Gefühl in unserem Blute, das sich vorzüglich in der
Gegend des Herzens äußert. Dieses physische Gefühl in un-
serem Herzen, verbunden mit den noch immer in unserm Kopfe thäti-
gen Beyfall oder Tadel der Vernunft, macht, wenn ich nicht
irre, das aus, was man Gewissen zu nennen pflegt.
Es gibt gewisse Gedanken, Worte und Handlungen, deren
sittlicher Werth oder Unwerth in allen Menschen entschieden
ist; durch öftere Wiederholung, Gewohnheit und Unterricht,
sind sie mit diesen Ideen so vertraut geworden, daß sie
jenes mit ihnen verknüpfte Gefühl unmittelbarer zu em-
pfinden glauben, ohne daran zu denken, daß solches eine
Würkung ihres urtheilenden Verstandes ist. Und dieses
mag vielleicht der Grund seyn, warum man dem Gewissen
gleichsam einen eigenen Platz in dem Menschen, so wie der
Seele und dem Herzen, angewiesen hat, obgleich viele noch un-
gewiß sind, ob sie solches in dem Kopfe oder im Herzen_
suchen sollen. Hieraus scheint also zu erhellen, daß der|<7>
Verstand beym Zusammenstoßen zweifelhafter Fälle zwi-
schen Pflicht und Vortheil, ganz vorzüglich beschäftiget seyn
müsse, besonders aber in solchen Fällen, wo der Scheide-
weg zwischen einer Pflicht und einem Vortheil nicht so leicht
in die Augen fällt, und auch wohl vor den schärfsten Bli-
cken lange versteckt bleibt. Im Grunde ist auch der er-
leuchtete Bruder F[ürst] Walder derselben Meinung; indem er dar-
auf dringt, daß man sich, um aus dem Zweifel zu kom-
men, an die Stelle seines Nächsten, seines Vaterlandes
u.s.w. setzen müsse, welches ohne Anwendung unsers
Verstands so wenig geschehen kann, als sich ohne Ver-
stand ein Urtheil über das Betragen unseres an un-
sere Stelle tretenden Nächsten denken läßt.

Aus diesem Vortrage von der Absicht des erleuchteten
Verfassers und der Ausführung desselben sieht man, daß
derselbe dem angeführten moralischsten Grundsatze der Sto-
iker durchgängig Beyfall gibt, und in der That muß
auch jeder, so gern er seinen eigenen Weg im Denken geht,
und so wenig er auch geneigt ist, auf die Worte einer Schu-
le zu schwören, diesen Grundsatz mit ganzem Herzen
umfassen. In allen Fällen, sie mögen beschaffen seyn
wie sie wollen, findet seine Anwendung statt; durch-
aus wahr ist: Pflicht und Vortheil dürfen nie getren-
net werden; nie darfst du nach einem Vortheil trach-
ten, der mit einem Schaden deines Nebenmenschen oder mit|<8>
dem inneren Schaden deines geistigen Wesens verbunden ist;
kein Vortheil komme dir zustatten, den die Tugend nicht
billiget; leide den Mangel, die Schmerzen des Leibes, ertra-
ge deinen bedrängten Zustand, die Ungemach lieber mit
Gedult und Standhaftigkeit, ehe du das entgegengesetzte
bessere Schicksal auf Unkosten deines Nebenmenschen und
deiner Tugend erkaufest. Doch damit ich nicht in den Feh-
ler falle, den der Durchlauchtigste Verfasser an denen ta-
delt, die Gegenstände des Nachdenkens aus unzeitiger Vor-
liebe zu Gegenständen des Herzens machen, so will ich,
so schwer mir es auch wird, bey einem Gegenstande, wie
dieser, die Empfindung aus dem Spiele zu lassen, jenen
Grundsatz der Stoiker mit den Augen der reinen Vernunft
anschauen und die Wahrheit desselben aus Gründen zu be-
stätigen suchen.

In keinem Fall, sagen die Stoiker, darf die morali-
sche Pflicht dem eigenen Vortheil nachgesetzt werden. Pflicht
ist ihnen alles, was rechtschaffen, was tugendhaft, was mo-
ralisch gut ist, (Honestum). Alles aber was tugendhaft,
rechtschaffen, moralisch gut ist, ist auch nützlich, und nichts
kann nützlich seyn, was nicht moralisch gut ist. Man darf
also in keinem Falle das Nützliche von dem moralisch Guten
trennen. Ich sehe, mit dem durchlauchtigsten Verfasser in dem
Gegensatz der Worte moralisch gut und nützlich nicht das
mindeste Misverständniß, ja vor meinen Augen ver-
schwindet sogar aller Anschein einer Metapher, die nach|<9>
Herrn Garve in der stoischen Bedeutung des Nützlichen oder
Vortheilhaften liegen soll. Es ist wahr, diejenigen Dinge,
die unsern äusseren Zustand, unsere äusseren Verhältnisse mit
anderen Menschen, unsere Bequemlichkeit, unser Vergnügen
betreffen, vornehme Geburt, Ehre, Reichthum, nebst denjeni-
gen Mitteln, die zu einem anständigen, bequemen und an-
genehmen Leben führen, werden gemeiniglich ausschließungs-
weise nützliche, vorteilhafte Dinge genannt. Ist aber
darum der gewöhnliche Sprachgebrauch auch immer der rich-
tige und wahre? Nützlich faßt einen Begriff in sich, der
überhaupt nur beziehungsweise gedacht werden kann. Denn
eine Sache kann für den einen nützlich, und für den
andern unnütz seyn; dieselbe Sache kann ferner für
einen und denselben Menschen unter gewissen Lagen und
Verhältnissen nützlich, und unter anderen Umständen und
Verhältnissen wieder unnütz und sogar schädlich seyn.
Der nachdenkende, nach höchster moralischer Vollkommen-
heit strebende Mensch, der allein das Modell ist und seyn
muß, nach welchem sich alle andere an Fähigkeiten und
moralischem Werth unter ihm stehenden Menschen bilden
müssen, geht noch weiter, und mißt den Werth aller
Dinge, die der gemeine Sprachgebrauch unter die nütz-
lichen begreift, nur nach der Güte der Absichten und Endzwecke,
die er durch ihren Besitz erreichen will, nur nach der Güte der
Mittel, die ihm zu ihrer Erlangung behülflich seyn sollen,
und nach der Beschaffenheit des Einflusses ab, den diese äußer-|<10>
lichen Dinge auf dasjenige Wesen in ihm haben und haben können,
das allein einer wahren, unveränderlichen, bleibenden Existenz
genieße; alles was außer ihm ist, betrachtet er als Gegen-
stände, die der Veränderlichkeit unterworfen sind, als solche, die
an sich selbst seiner wahren inneren Vollkommenheit nichts
hinzusetzen können, wenn er sie besitzt; er bedient sich ihrer
blos als Mittel, edlere, höhere Endzwecke zu erreichen, und
legt ihnen nur in so fern einen Werth bey, als sie einer zu
seinem und anderer Menschen wahrem Wohl dienenden An-
wendung fähig sind. Alle jene äußerlichen Dinge machen
den Menschen nicht wahrhaft glücklich; so wie sie selbst verän-
derlich sind, wie ihr äußerer Werth steigt und fällt, eben
so veränderlich sind auch die Gesinnungen ihrer Besitzer in Ab-
sicht auf sie; man hat Beyspiele, daß diese ihrer überdrüs-
sig, mit gänzlicher Hintansetzung derselben zu der wahren
Quelle des menschlichen Glücks, in sich selbst, zurückgekeh-
ret sind. Diese Lehre ist gewiß von einem unschätzbaren
Werth, und ich wüste nicht was man mir schon für die
unnenbaren Freude bieten könnte, die mir die weni-
gen Stunden, die ich ihrer Untersuchung widmete, ge-
währet haben, wenn es möglich wäre, sie zu vertauschen.
Dies war die Philosophie der stoischen Weltweisen, und sie
hatten recht, wenn sie nach diesen Begriffen, das Nützliche
von dem moralisch Guten nicht getrennt wissen wollten;
Sokrates hatte recht, denjenigen zu fluchen, der es zu-
erst wagte, diese von Natur (oder nach den ausgemacht
wahren Schlüssen der Vernunft) unzertrennlich verbundenen|<11>
Dinge von einander zu reissen. Es gibt keine einzige Philoso-
phie, die, die mit den Stempel der Wahrheit bezeichnet ist; sie ist und
bleibt die einzige wahre, wenn sie auch bis zur äußersten Gren-
ze des menschlichen Denkens, bis zur höchsten Spannung getrieben
wäre. Sie bleibt die einzige wahre Philosophie, wenn sie auch
in äußerst wenig Köpfen auf dem ganzen Erdboden zu fin-
den, und im gemeinem Leben alltäglicher Menschen keine Spur
von ihr zu finden wäre; die wahre Philosophie, der wahre mo-
ralische Mensch muß gesucht werden; sie lassen sich nicht auf
der Straße in dem ersten Vorübergehenden finden. O! es ist
ein edler erhabener Vorsatz, dieser Philosophie nahe zu kom-
men und ihre höchsten Gipfel zu erreichen! Und welcher heisse
Dank, meine Brüder, gebührt dem edlen Manne, der uns
in einer seeligen Stunde wieder auf ihre halbverlöschte
Spur führte!

Ich darf nicht schliessen, ohne noch Einiges über den Fall
mit dem Tirannen Phalaris[2] zu sagen. Ich habe die ihn be-
treffende Stelle im Original nachgelesen, mit der Garveschen
Uebersetzung verglichen und letztere richtig befunden. Cice-
ro glaubt, man sey berechtiget, einen Phalaris oder jeden
andern Tirannen zu berauben, weil es recht und sogar
rühmlich sey, ihn zu tödten; denn diese ganze gottlose, mör-
derische Geschlecht verdiene aus der Gesellschaft der übrigen
Menschen, da keine gesellschaftliche Verbindung mit einem
Tirannen obwalte. Verstoßen zu werden. Dies ist die
Sprache, nicht der kalten bedachtsamen Philosophen, son-
dern des eifrigen Republikaners, den Staat und bürger-|<12>
liche Freyheit alles war. Wir aber bleiben der Wahrheit
getreu, ohne dabey den Staat und der bürgerlichen Frey-
heit etwas zu vergeben. Der Privatmann, er sey wer
er wolle, thut der Natur Gewalt an, er handelt unrecht
und moralisch schlecht, wenn er seine Hand an den Tiran-
nen legt, entweder und ihn zu berauben, oder zu tödten.
Bringt der Tirann den Staat an den Rand der Verwüstung
und des Untergangs, ist sein einziges Bestreben, die Bürger
in das äußerste Elend zu setzen, anstatt sie zu beglü-
cken, so muß hier der gesamte Staat, die öffentliche Ge-
rechtigkeit ins Mittel treten, den Tirannen nach den
Gesetzen richten und ihn für die Zukunft unschädlich ma-
chen. Nur keine Blutgerichte wie jene, auf welchen die
Tirannen Athens bluteten. Die Philosophie soll bey
aller ihrer Strenge und bey allem Einfluß auf feste
unerschütterliche Denkungsart unser Gefühl für Mensch-
lichkeit nicht unterdrücken und wir wollen vor jenen stoi-
schen Philosophen noch den Vorzug behalten, nicht allein
ihren Grundsätzen sondern auch der Menschlichkeit treu
zu bleiben, zumal da deutsche Fürsten uns als
Muster hierin beyden voran gehen.

Cassiodor

Notes

  1. Christian Garve, Christian Garve, Abhandlung über die menschlichen Pflichten in drey Büchern aus d. Lat. d. Marcus Tullius Cicero übers. von Christian Garve (Breslau: Wilhelm Gottlieb Korn, 1783). – Weitere Ausgabe: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero's Büchern von den Pflichten: Anmerkungen zu dem Dritten Buche. Neue verbesserte und mit einigen Anmerkungen und einer Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik vermehrte Ausgabe (Breslau: Wilhelm Gottlieb Korn, 1788).
  2. Phalaris (Φάλαρις), Sohn des Leodamas von Rho-dos, 570 bis 555 v. Chr. Tyrann der griechischen Kolonie Akragas, dem heutigen Agrigent, in Sizilien.