D-Q6600

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Commentary

Die Sätze passen in den Kontext der Verhaltenskontrolle. Am Schluss geht es um die Wahl eines Mannes, den man sich bei all seinen Handlungen als heimlichen Zeugen vorstellt, und unter dessen Augen man Fehler nicht begeht.

Transcript

Fragmente vom Seneka nach der französischen Über-
setzung in der Collection des anciens Moralistes. Tome I.[1]

1.
Jemanden als Freund betrachten, und in ihn nicht das nehm-
liche Vertrauen setzen als in sich; das heißt sonderbare
Selbsttäuschung, das heißt, den Umfang der wahren Freund-
schaft nicht kennen. Euer Freund sey der Vertraute bey
allen euren Berathschlagungen; aber vorher muß er
ihr Gegenstand gewesen seyn. Zutrauen nach geschlosse-
ner Freundschaft: richtige Beurtheilung ehe man sie
schließt. Man vermengt die Pflichten, man übertritt
Theophrasts Vorschrift, wenn man sich ohne Vorher-
kenntniß verbindet, und erst dann brechen will, wenn
man seinen Mann kennt.

Denket lange nach über die Wahl eines Freundes:
ist sie einmal bestimmt, so öffnet ihm ganz euer
Herz; nicht mehr Zurückhaltung gegen ihn als gegen
euch selbst. Haltet ihn für sicher, und er wird es seyn:|<2>
oft lehrt man betrügen, indem man betrogen zu wer-
den fürchtet; Mißtrauen berechtiget zum Bruch der
Treue.

2.
Sich Jedermann anzuvertrauen, und sich Niemanden
anvertrauen wollen, ist beydes Uebermaaß: in dem
einen liegt mehr Ehrlichkeit, das andere ist sicherer.

3.
Durch viel Reisen erlangt man viel Bekanntschaft,
und keinen Freund. Alle diese Veränderungen des
Aufenthalts beweisen nichts anders als Unruhe
eines kranken Geistes. Das erste Merkmal in-
nern Friedens ist das Vermögen sich zu etwas ent-
schließen, und mit sich selbst allein seyn zu können.
Überall seyn, heißt nirgends seyn.

4.
Sich in Armuth fügen, ist Reichthum: man ist
arm, nicht weil man wenig hat, sondern weil man
viel verlangt.

Folgt nicht dem Beyspiele gewisser Philosophen|<3>
die weniger begierig sind Fortschritte als Aufsehen
zu machen; hascht nicht in euren Außerlichen oder
in eurer Lebensart, Sonderbarkeiten, die euch aus-
zeichnen. Ein fremder Anzug, ein unordentliches
Haar, ein verwirrter Bart, ein offenbarer
Abscheu für alles Silberwerk, ein auf der Erde
aufgebreitetes Bette, und tausend andere Umwe-
ge, durch die ihr verdeckte Art Aufmerksamkeit
auf euch ziehen wollet, alles das müsset ihr
euch untersagen. Der Name Philosoph ist schon
nur sehr verhaßt, bey aller Bescheidenheit mit
der man ihn führt: was wird es seyn, wenn wir
uns dem Gebrauch entziehen wollten? Durch das
innere muß man sich von dem Pöbel unter-
scheiden: nach dem äußerlichen Ansehen, kan man
ihm ähnlich seyn. Der Weise ist eben so entfernt
wider die öffentlichen Sitten anzustoßen, als durch
die Besonderheit seines Lebens die Augen auf sich zu zieh-
hen.|<4>

7.
Der Weg durch Lehren ist lang; der Weg durch
Beyspiele ist kürzer und sicherer. Plato, Aristoteles
und jene Menge von Weisen, die so vielen verschie-
denen Wegen folgen sollten, zogen mehr Nutzen
aus den Sitten, als aus den Gesprächen des
Socrates.

8.
Den Boshaften nachahmen weil sie den großen
Haufen ausmachen, und den großeßen Haufen has-
sen, weil er uns nicht gleicht, sind zwey Fehler-
hafte Extremitäten.

9.
Warum wählt der Weise seinen Freund?
Um Jemanden zu haben für den er sterbe, den
er auf der Verbannung begleite, dessen Leben
er durch das seinige rette. Händel, nicht Freund-
schaft sind solche eigennützige Verbindungen, die sich
blos auf Berechnung von Profit gründen.|<5>

12.
Wie thöricht sind doch die Menschen! Sie mur-
meln den Göttern mit leiser Stimme schändliche
Wünsche ins Ohr: sobald man ihnen zuhört, so
schweigen sie; sie würden sich nicht unterstehen
den Menschen zu sagen, was sie den Göttern
sagen. Laßt uns mit den Menschen leben als
wenn uns Gott sähe: laßt uns mit Gott
sprechen als wenn uns die Menschen zuhörten.

13.
Man muß sich einen rechtschaffenen Mann
wählen; ihn niemahls aus den Augen laßen;
beständig leben wie in seiner Gegenwart, je-
derzeit handeln so wie unter seinen Augen.
Diese Vorschrift ist vom Epicur; wir bekom-
men dadurch einen Beobachter, einen Aufseher.
Er hat wohl recht: man würde wenig Fehler be-
gehen, wenn man in dem Augenblicke, da|<6>
man sie begehen will, einen Zeugen hätte. Die
Seele bedarf eines Mannes der ihr Ehrfurcht ein-
flößt und dessen Ansehen auch ihre geheimsten Ge-
danken heiligt. Wohl dem Manne dessen Bild al-
lein, ohne daß er sich sehen läßt, einen andern
bessert! Wohl auch dem Menschen, dem jener
ehrwürdig, so ehrwürdig ist, daß er, bey der
Erinnerung an ihn, zum Guten wieder ein-
lenkt.

Conradin.

Notes