D-Q6605

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Commentary

Zum Kontext siehe noch Volker Wahl (Hrsg.), Das Kind in meinem Leib. Sittlichkeitsdelikte und Kindsmord in Sachsen-Weimar-Eisenach unter Carl August. Eine Quellenedition 1779-1786

Von den zwei Aufsätzen Eisenhuts ist dies der erste (im zweiten datiert auf den November letzten Jahres) – ein Aufsatz, der in der empfohlenen Praxis hapert und sich selbst dabei als Aufsatz aus der praktischen Erfahrung des Justizapparates fortlaufend anpreist

Zur Datierung: Laut Datierung des Folgeaufsatzes (31. Januar 1788) müsste dieser Vorgängertext aus dem November 1787 stammen. Dies kollidiert mit der inhaltlichen Angabe in dem Vorgängeraufsatz, die Preisschriften der Mannheimer Preisfrage seien „im Vorjahr“ veröffentlicht worden; diese stammen nämlich von 1784. Am besten also mal in den Protokollen nachsehen, wann die beiden Aufsätze vorgetragen wurden! Pfeil veröffentlichte seine Preisschrift noch einmal 1788 in der Weidmannischen Buchhandlung in Leipzig. Im Anhang paraphrasierte er eine Reihe anderer Einsendungen.

Nimmt Bezug auf drei jüngst mit Preisen ausgezeichnete Beantwortungen der Frage, wie man Kindermorde verhindern kann, ohne damit die Prostitution Unzucht (= nichteheliche Sexualität) zu fördern. → Handelt sich um die Mannheimer Kindsmordpreisfrage von 1780 (siehe Anmerkung).

Lange Eingangspassage dazu, dass er mit den ausgezeichneten Verfassern in den Gründen der Kindstötungen übereinkommen will. Distanziert sich von ihnen dann jedoch in der Betonung, dass es nicht so sehr die Aussicht auf Strafe ist, die die Frauen Schwangerschaften verheimlich und Kinder am Ende umbringen lässt, als die Entehrung, die ansteht. Hier müsste man noch mal bei Otto Ulbricht nachschauen, wie genau die übrigen Schriften argumentieren; er gibt dazu so eine Art Übersicht.

Die Gründe für den Ehrverlust werden in überkommenen Vorurteilen gesucht – eine spannende Option, da sie an dieser Stelle bis zu den Germanen zurückverfolgt werden, die höchste Ehrbegriffe laut Tacitus hielten und Hurerei in beiden Geschlechtern mit dem Tode bestraften. Auf dem Land hätten sich die Ehrbegriffe besser als in der Stadt gehalten. Die Okkupationen durch ausländische Truppen hätten in den letzten 20 Jahren zu einer neuen Moral in den Städten geführt – Hurerei sei jetzt Galanterie (das hinkt beträchtlich, da die Heere wohl härter das Land heimsuchten als die Städte und da Galanterie und Hurerei wiederum schon um 1700 als Zusammenhang gehandelt werden – der Mode, die Franzosen nachzuahmen). Unklar überhaupt wie man einen Ehrbegriff der bei Germanen zu preisen ist, abschaffen will und dabei es als Fortschritt preisen möchte das ausländische Heere laxere Sitten bei den Deutschen einführten. Indes um eine Gesellschaft neuer Ehrbegriffe geht es – sie wird zum Zielpunkt. In der Tat ist hier nicht klar, ob es nun gut ist, dass die Franzosen neue Sitten eingeführt haben oder nicht – im Grunde scheint es so, als sei das Ergebnis zu begrüßen, gleichzeitig klingt aber ein antifranzösische Ressentiment durch!

Überaus heikel ist in dem gesamten Text die Hurerei als Problemstelle ausgemacht und ein Objekt argumentativer Inkonsistenz.

Die Emphase, mit der er für einen verständnisvolleren Umgang mit „gebeugten“, „gefallenen“ Frauen eintritt, ist getragen von Bildern des unschuldigen Bauernmädchens, das nicht ausreichend gebildet dem Naturtrieb nachgab und am wenigsten eine Kriminalisierung verdient. Die notorische Diebin, mit der man auf dem Land immer noch Verständnis zeigt ist hier der Gegenpol. Hure sei ein Schimpfwort, das ungerechtfertigt hier verwandt wird, ja das alttestamentarische Wort von der Hurerei, die den Tod verdiene will er auf Menschen anwenden, die ob in einer Ehe oder außerhalb Gottes Gott und Natur zuwider handeln – unklar welche sexuellen Praktiken hier verdammt werden sollen. Das Bauernmädchen das außer der Ehe schwanger wird sei keine Hure in diesem Sinne.

Dann jedoch kommt er zu einer Kritik an denen, die die Preisfrage stellten: sie hätten wohl besser gefragt, wie man die Hurerei verhinderte, denn sie sei hauptsächlich für das Phänomen der Kindstötungen verantwortlich – hier greift eine eher konventionelle Definition von Prostitution, der er bislang auswich.

Der Aufsatz kommt zu keinen klaren praktischen Maßgaben durch und kündigt diese mit einem Folgebeitrag an – dem Aufsatz SK13-035.


Transcript

Q.L. Eccardt[1]|<1>


Nach dem Dafürhalten derer 3 Verfasser,[2] welche,
bey der in vorigen Jahre bekanntgemachten
Aufgabe:

Welches sind die besten ausführbarsten
Mittel, dem Kindermorde abzuhelfen,
ohne die Unzucht zu begünstigen?[3]

den Preiß erhalten haben,[4] soll der Grund
von diesem Verbrechen, in der Scham für
der Welt, Furcht für strengen Aeltern, Ver-
wandten und Obrigkeitlicher Strafe, an dem
Mangel an Mitteln, sich und das Kind zu er-
halten, und an dem verlohrnen Bewußt-
seyn in der Geburtsstunde, liegen. Es sind
zwar auch noch andere Ursachen in diesen
Schriften mitangegeben worden, doch aber
stimmen sie darinnen überein, daß obige,
die vorzüglichste Quelle, von dieser die Mensch-
heit so sehr entehrenden Schandthat sey.

Die gröste Verwegenheit wäre es von
mir, wenn ich mich sowohl diese drey in
aller Betrachtung verdienstvollen Männern,
als auch diejenigen Gelehrten,[5] welche diese
Schriften beurtheilt, und für die besten be-|<2>
funden haben, und welche lezten, von dem
ganzen Publico, als Männer, von der ersten
Größe, mit Recht anerkannt sind, zu widerlegen
erdreisten wollte. Auch schon dieses würde ich mir
selbst als ein Verbrechen anrechnen, wenn ich nur
wenigstens den Schein annehmen wollte, als
ob mich diese obangezeigten Ursachen von der
Wahrheit nicht sattsam überzeugt hätten. Nein!
ich schliese mich hier sehr gerne, an die große
Reihe im Publico mit an, und bekenne selbst,
daß der Kindermord gewiß oft eine Würckung
obiger Ursachen ist.

Unter dieser Voraussetzung aber sey mir es
doch hingegen erlaubt, dasienige was ich hierbey
gleich von Anfange, ehe ich noch fremde Gedancken
darüber las, dachte und empfand zu sagen.

Von iedem Verbrechen, es mag auch noch so
grausam seyn, hat man Beyspiele genug, daß
der Bösewicht selbige am hellen Tage ausgeübt
hat. Keines aber muß dunkle Nacht und ver-
borgene Winkel mehr lieben, als Hurerey und
Ehebruch, oder mit einem Worte die fleisch-
lichen Verbrechen. Der Grund hiervon kann wohl|<3>
kein anderer seyn als eine gewiße innerliche
Scham, verbunden mit Furcht für Schande, und
deren Ursprung deucht mir, ist lediglich in den Zeiten
unserer Vorfahren zu suchen. Keine Nation muß,
wie Tacitus bezeugt, die fleischlichen Verbrechen,
mehr verabscheut, und gebrandmarckt haben,
als die alten Deutschen. Eine Hure, wurde damals
allgemein verachtet, die Tochter welche, als eine
ledige Dirne in ihres Vaters Hause schwanger
wurde, stürzte man von der aüßersten Spitze
eines Bergs herunter, und ihr Liebhaber wurde
am Leben gestraft. Dem allen ohngeachtet, gab
es doch auch damals Menschen genug, welche die
Sinnlichkeit in gewißen schwachen Augenblicken,
die ieder Erdenbürger hat, überraschte, sie so betäubte,
daß sie weder an Gesez noch Strafe dachten, sondern
in dem heftigen Sturme, der Leidenschaften, ihr
natürliches Bedürfniß befriedigten. Was that nun
die gebeugte Weibsperson, welche die traurigen
Folgen, von ienen süßen Umarmungen einige
Zeit darauf fühlte? Sie schämte sich fürchtete die
sie erwartende Schande und harte Strafe,
um nun diesen allen zu entgehen, verbarg|<4>
sie von Zeit zu Zeit ihre Schwangerschaft, und war
sie bey ihrer Geburtsstunde allein, so erwürg-
te sie ihr Kind. Nun ist zwar an dem, daß dem
Höchsten sey Dank dafür, iene barbarischen Strafen
bey fleischlichen Verbrechen nicht mehr stattfinden,
Vernunft, und menschlich Gefühl, haben sie aus
der Gesellschaft verdrängt, daher glaube ich denn
daß Furcht für der Strafe und Furcht für Ael-
tern und Verwandten ungleich weniger Ur-
sach von Kindermorde ist, als vielmehr Stolz, in-
nerliche Scham, und Furcht für der Schande.

Die harte Strafe, ist in den mehresten deutschen
Ländern, durch gelindere Geseze abgeschaft, die ver-
meintliche Schande aber, welche mit dem allgemein
in Deutschland recipirten Worte: Hure, verbunden
ist, hat sich von unseren Vorfahren, biß auf unsere
Zeiten, eben so fortgepflanzt, wie ihre Sprüchwör-
ter, und der mit ihnen verbundene Begriff, wo-
von wir noch eine unzählige Menge haben.

Aus vielen bey meinem Officio vorge-
kommenen Beyspielen weis ich aus Erfahrung, |<5>
daß geschwächte Weibspersonen, die ihnen zuer-
kannte Strafe, mit der grösten Gelaßenheit
ertrugen, laut aber weinten sie, wenn sie ie-
mand eine Hure schalt, wenn sie beym Genuß
des heil[igen] Abendmahls, ganz zulezt gehen mußten,
wenn sie keinen Kranz tragen durften, und
wenn sie ihr Kind, mit weniger Ceremonie musten
taufen laßen, als ein in der Ehe Erzeigtes.

Zwar ist es an dem daß iezt ein im der Ehe
ledigen Stande erzeigtes Kind, schon nicht
mehr so viel Aufsehen macht, als vor nur ohn-
gefehr 20 Jahren. Seit dem fremde Kriegsvölcker
unsere Sitten nach den ihrigen bildeten, seit-
dem Hurerey in den deutschen Städten Galan-
terie genannt wurde, seit dieser Zeit vergaß
man auch nach und nach iene Schande, und rech-
nete sie unter abzuschaffende Vorurtheile.

Auf dem Lande aber, und mithin unter
dem größten Haufen, ist zwar die Denkungs-
art, hierinne ebenfalls etwas gemäßigter,
dennoch aber immer noch ein ungleich größerer|<6>
Vorwurf, für ein Bauernmädchen, diesen
Fehltritt gethan zu haben, als für das Mädchen
in einer großen Stande Stadt. Und eben so wie
unser Landvolck allemal, unsern alten Deut-
schen ähnlicher sieht, als der Städter, eben so sind
auch unter ienen, noch mehr alte Sitten und
Gebräuche anzutreffen als unter diesen. Eine
so genannte Hure, ist auf dem Lande eine un-
gleich größere Verbrecherin, als eine Diebin.
Diese behällt, sie mag das boshafteste Herz
von der Welt haben, sie mag Jahre lang im
Gefängniß gesessen, am Pranger gestanden,
ia wohl gar Staupenschläge erlitten haben,
dennoch alle Vorzüge einer andern ganz un-
bescholtenen Jungfrau, sie trägt bey denen
auf dem Lande sehr üblichen Gewohnheiten,
ihren Krantz, das vorzüglichste Zeichen, des
Jungfräulichen Stoltzes; und iene, die das
beste Hertz, das edelste Gefühl in ihrer Seele
hat, nur das es vielleicht, aus Mangel der Er-|<7>
ziehung, als ein unausgebildeter Keim ver-
borgen da liegt, die weder Gott, sich selbst
noch ihre Nebenmenschen, durch diesen Fehl-
tritt, der blos habsichter[6] Menschen halber, zum
Fehltritt gemacht worden ist, beleidigte, und
gar nicht weiter that, als daß sie dem Rufe
der Natur folgte, dieses arme unschuldige Mäd-
chen, muß ein Opfer menschlicher Bosheit wer-
den, wird verachtet, von iedermann ver-
höhnt, verspottet, ihr ganzes zeitliches Glück
ist nun auf einmal verschwunden, ver-
schwunden iene süße Hofnung, iemals nun
aus Neigung heyrathen zu können! -
Weßen Hertz bey solchen traurigen Scenen,
dergleichen ich im judicio viele erlebt habe,
nicht weich wird, welcher Richter oder Pre-
diger, hierbey nur auf die That, und nicht
auf die mit ihr verknüpften Umstände sieht,
das ohnehin genug gebeugte Mädchen noch
mehr schlägt, der verdient nicht an dieser|<8>
Stätte zu sitzen, denn er und nicht das arme
Geschöpf, wird Mörder an dem unschuldi-
gen Kinde!

Wenn ich vorher behaupte, daß eine Weibs-
person, die im ledigen Stande schwanger
wird, sich nicht einmal an Gott versündige;
so könnte mir eine bekannte Stelle, in
der Bibel: Hurer und Ehebrecher wird Gott
richten, entgegengesetzt werden. Aber ob ich
gleich den Grundtext nicht verstehe; so sagt
mir schon die gesunde Vernunft, die mir
auch bey der Bibel vorzüglich zur Leiterin
gegeben ist, daß dieser Spruch schlechter-
dings nicht so verstanden werden darf,
wie er gemeiniglich ausgelegt wird.

Ich glaube vielmehr, daß man nach dem
Sinn dieser Worte, sogar im Ehestande
Hurer, und Ehebrecher seyn kann, ohne
sich mit fremden Personen zu vermischen.
Wer die Menschheit entehrt, sie bis zum|<9>
Vieh herabwürdiget, ia sogar wollüstiger
ist als dieses, wer dem Zweke des Schöpfers
entgegen handelt, dieß ist ein Hurer! und den
wird Gott richten! Ich kann mich wenigstens noch
nicht überzeugen, daß ein ohne vorhergegange-
nen priesterlichen Segen, von 2 ledigen Per-
sonen, erzeigtes Kind, ein Vorwurf der rächen-
den Gottheit sein solle, wie viele Prediger, ja
so gar auch Priester der Gerechtigkeit, um sich
in dem ihnen gnädigst anvertrauten, durch
die täglich daselbst ausgeübte Bosheit, und Un-
gerechtigkeit, ganz verunstalteten Tempel
der Themis, ein Ansehn frommer Christen zu
geben, noch izt behaupten wollen. Kömmt
nun bey dem unehlichen Kinde, besonders
noch eine fremd vernünftige Erziehung dazu,
so finde ich nicht wie Gott und Menschen dadurch
beleidiget werden sollen. Damit aber will
ich nicht etwan das Ansehn des Ehestandes
herabwürdigen, das sey ferne. Erstlich|<10>
würde daraus, wenn nicht ganz besondere
weise Maasregeln getroffen würden, viele
Unordungen entstehen, und hernach wären
auch die Klippen, die ich hierbey zu überstei-
gen hätte, für mich etwas zu hoch, und zu
steil. Meine Absicht ist lediglich zu bewei-
sen, daß es besser wäre, daß es den Kinder-
mord minderte, ihn vielleicht nach Verlauf
einiger Jahre ganz vertilgte, wenn man die-
se Art gefallener Weibspersonen mensch-
licher behandelte.

Freylich wäre zu Erlangung des bey dieser
Preisaufgabe, gesuchten Endzwecks, wohl
nützlicher gewesen, darüber einen Preiß
auszusetzen:


    Auf welche Art ist der Hurerey der beste
    Einhalt zu thun?

Denn wenn diese nicht wäre, so könnte ienes
nicht folgen. Da inzwischen diese, so lange
Menschen, Menschen sind, ein pium deside-
rium bleiben wird, und der Grund nach mei-
nen wenigen Ermeßen: Stoltz Scham, |<11>
und die daraus entspringende Furcht für der
Schande ist; so scheint es zwar, als ob nun dieses Ver-
brechen auszurotten, vor allen Dingen zuvör-
derst, eine innerliche Verbeßerung der Menschheit
nöthig wäre. Dennoch aber glaube ich gibt es ei-
nige ausführbare Mittel, die den Kindsmord
zwar wohl nicht ganz ausrotten, ihn aber doch
seltener machen.

Wenn es Zeit und Umstände erlauben verspricht
letztere anzu künftigen Monat anzuzeigen

Eccard.

Notes

  1. Auf der Rückseite, die als Umschlag diente.
  2. Johann Gottlob Benjamin Pfeil (1732-1800), Amtmann zu Rammelburg; Philipp Engel Klippstein (1747-1808), Kammerrat; Johann Gottlieb Kreutzfeld (1745-1784), Bibliothekar und Professor in ???.
  3. 1780 lobte der Mannheimer Regierungs- und Oberappellationsrat Ferdinand Adrian von Lamezan (1741-1817) in verschiedenen Zeitschriften 100 Dukaten für die beste Antwort auf die Frage „Welches sind die besten ausführbaren Mittel dem Kindermorde Einhalt zu thun?“ aus. Mit insgesamt 385 Einsendungen handelte es sich um die mit weitem Abstand meistbeachtete Preisfrage der Spätaufklärung. Die Preisträger wurden jedoch erst 1784 bekanntgegeben; da Eccard/Eisenhuth davon Kenntnis hat, muss sich seine Zeitangabe „im vorigen Jahre“ auf eben das Jahr 1784 beziehen.
  4. Die drei preisgekrönten Antworten wurden 1784 unter dem Titel Drei Preisschriften über die Frage: Welches sind die besten ausführbarsten Mittel dem Kindermorde abzuhelfen, ohne die Unzucht zu begünstigen? in Mannheim (Schwansche Hofbuchhandlung) publiziert.
  5. Eine wichtige Rolle spielte hier der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis,
  6. = habsüchtiger