D-Q6613

From FactGrid
(Redirected from Q6613)
Jump to navigation Jump to search

Commentary

Der Aufsatz ist zweigeteilt. Lauhn berichtet im ersten Teil von seinem besonderen Verhältnis zum Satz, den er sich als Motto setzt und über den er vermutet wie über gar keinen anderen kennengelernt zu werden – „der lernet mich hieraus ganz kennen“ lautet das Angebot an einer Stelle.

Im zweiten Teil, eingeleitet durch eine römische I und eine Zwischenüberschrift, der weitere Zählschritte dann aber nicht mehr folgen, versucht Lauhn das Versprechen einzulösen, das ihm das Motto auferlegt, nämlich am Heimatort seine Bestimmung unter seinen nächsten Mitmenschen zu finden.

Das gewählte Motto – „Eine menschenfreundlichen biedre That welche deinem Bruder frommt, und gedeiht ist verdienstlicher, als deine Herkulessarbeit zum Besten der Welt. Sey Mann deines Weibes, Vater deiner Kinder, Bürger deines Städtchens und lehre nicht gleich die Fürsten regieren“ – hat eine sozial stabilisierende Stoßrichtung. Den großen Heldentaten, die Herkules verrichtete, steht der Dienst am Nächsten gegenüber, der nun im nächsten sozialen Umfeld und in der Funktion in den originären Rollengefügen zu entfalten ist. Familiäre Pflichten und die Verpflichtung des Bürgers gegenüber seiner Stadt bilden den größeren Kontext.

So wie Werther von einem Ossian-Satz in Bann geschlagen wurde, so habe dieser Satz ihn, Lauhn erfasst, was erst vor dem größeren biographischen Hintergrund verständlicher werde. Lauhn wuchs in Buttstädt auf, er studierte Jura in Jena und Leipzig um eine Karriere als Amtmann einzuschlagen. Bei alledem blieb er sich unsicher, ob er seine Leistungskraft seinen Gaben gemäß entfaltete. Insbesondere eine Neigung sich mit Geschichte zu beschäftigen ging in der beruflichen Karriere nicht auf. Eine Sinnkrise befiel ihn unter der Frage, ob er auch tat, was zu tun an ihm war.

Der zitierte Satz Stürzers habe diese Krise schlagartig beendet und ihn seelisch wie körperlich in eine ganz neue Position gebracht. Er habe begonnen das was er tat als genau seine Mission zu erfassen und dafür zu leben.

Gerade sich mit der Geschichte zu befassen sei damit wieder möglich und sinnvoll geworden – er konnte nun im Dienst an seiner Heimatstadt sich deren Historie widmen. Die Aufgabe erfüllt er indem er Chroniken liest und vergleicht, und in dem er im Einzelfall Akten studiert. Die Frucht dieses Studiums im zweiten losgelösten Teil schlägt sich in einem schwach strukturierten Referat merkwürdiger Daten der Buttstädter Geschichte nieder. Wann erhielt die Stadt das Marktrecht, mit dem sie ihre Position im Viehhandel gegenüber dem größeren Messeort Leipzig wahrte? Ohne Übergang geht die Darlegung in den Bericht von Hinrichtungen über, die zu Buttstädt und Eckartsberge vollzogen wurden, wobei der Blick bis ins 15. Jahrhundert zurückgeht. Drei Fälle werden erwähnt. An ihnen scheint Lauhn bemerkenswert, dass hier seinerzeit noch schnell verfahren wurde. Der eine der Fälle verband sich mit einem Moment des Aberglaubens. Vor dem Rathaus blieb ein Stück ungepflastert. Die Handwerker verorteten hier die Richtstädte, die sich mutmaßlich dem Pflaster widersetzte. Als man 1768 von Rat aus auf die vollständige Pflasterung drang, kamen die Pflasterer dem Auftrag nur nach, nachdem sie ein Kreuz in den Boden einpflasterten von dem aus sie weiter arbeiteten – Aberglaube aus Lauhns Sicht, aber ein Beleg für die Wahrheit der Geschichte.

Die historische Darlegung steht unter dem Pyrrhonismusstreit. Lauhn agiert redlich mit Zweifel an den Chronisten, kann diese aber ausräumen durch eine Archivrecherche, die sich nicht ganz befriedigend ausführen lässt.

Nicht ganz klar wird, was der Geschichtsbeitrag mit der persönlichen Sinnfindung zu tun bekommt – es scheint Lauhn in ihm vor allem um eine Ehrenrettung des Stadtrats zu gehen, der vordem im Alleingang Urteile bestätigte, ohne Rücksprache mit dem Landesherren und dem man Grausamkeit vorwerfen könnte. Diese Vorwürfe hielten der Aktenrecherche nicht stand. Wohl urteilte man schnell, doch folgte man Verfahrensregeln, so die Botschaft und setzte sich dabei fair mit ungerechtfertigten Einsprüchen auseinander. Läge denn der Dienst an der städtischen Gemeinschaft hier vor allem darin den Makel der Rufschädigung und des „Spotts“ von ihr getreu abzuwenden.

Ein merkwürdig fragmentarischer Aufsatz, der eine eigene bürgerliche Charakterskizze birgt. Prekär wie immer an der Nahtstelle da der Diskurs vom Persönlichen in die höheren Regionen ausgreift. Hier ist markant die Autobiographie zur Geschichtsarbeit getrennt und letztere eher hilflos und schlecht geschrieben aufgesetzt als Einlösung des Auftrags.

Transcript


„Eine menschenfreundlichen biedre That, welche
„deinem Bruder frommt, und gedeiht, ist
„verdienstlicher, als deine Herkulesarbeit zum
„Besten der Welt. Sey Mann deines Weibes,
„Vater deiner Kinder, Bürger deines Städtchens
„und lehre nicht gleich die Fürsten regieren.

So lebhaft, als ich mich desienigen erinnere,
was damals in dem Innersten meiner Seele
vorgieng, als ich auf diese Worte in den ver-
mischten Schriften von Sturz[1] vor nun fast 3
Jahren stieß, sie las, noch einmal, und wiederum
las: so wenig bin ich im Stande, alle Bewegungen
und den Aufruhr in meiner Seele zu einer|<2>
Zeit, Jemanden zu beschreiben, und durch
eine weitläuftige Erzählung anschauend
zu machen. Ich sinne herum, ob ich mich ir-
gend einer Beschreibung von Etwas Aehnlichen
erinnere, und wenn es dort in Werthers
Leiden heißt: die ganze Gewalt dieser Wor-
te fiel über den Unglücklichen:[2] so möchte
ich diesen Ausdruck brauchen, um Jemandem
zu sagen, was Sturzens Worte auf mich
würckten. Freylich war meine Lage ganz ver-
schieden von der, in welcher Werther sich befand,
auf den Ossians[3] Worte[4] mit aller Gewalt fielen, |<3>
weil sie dem Gedanken so nahe verwandt waren,
welcher schon damals durch seine Seele tobte. Sturzens
Worte würckten auch auf mich, aber sie würckten
Beruhigung, Freude, Beschämung meiner selbst,
nur daß sie, wie alles, was uns unverhofft
kömmt, alle Gewalt eines plötzlich eintretenden
Sturmes mit sich führten, und mich ausser
mich sezten. Ob sie ganz oder nur halb
wahr gesaget seyn dürften, hierum konnte
ich in meiner damaligen Lage mich nicht bekümmern.
Izt düncket mir, daß Einer bey der ersten An-
sicht über ihre Wahrheit leicht zweifelhaft wer-|<4>
den könnte. Ich hatte, es zu werden, nicht Zeit.
Denn Lesen, und aufbrausende Empfindung
waren bey mir eins. Der Gedanke, mit dem
meine Seele bis dahin immer beschäftiget war,
hatte sie zerstreuet, unruhig gemacht, und
zugleich auf meinen Körper Einfluß gehabt.
Ich wünschte Auflösung des Bandes, das mich
fesselte, Befreyung von einem Mismuthe, der
mich quälte, und Leichtigkeit in meinem Körper,
die mir fehlte, was Wunder! wenn ich begierig
zum Mittel griff, das mir alles das verschaffte,
hitzig die Quelle in mich goß, die mich erquickte,|<5>-
und neue Beschäfftigung, in Untersuchung der
Wahrheit des Gesagten, für meine Seele über-
sah, oder in dem Wege vorübereilend liegen
ließ? Genug, Sturzens Worte gossen süsse Er-
quickung, Beruhigung und Trost, in meine Brust,
unter der plötzlichsten und heftigsten Erschütterung.
Hinsicht auf zurückgelegte Jahre, Wiederholung
bey sich selbst von dem, wie man gedacht, wie
man gehandelt, ist in meinen Augen eine der
nüzlichsten Beschäftigungen des Menschen. Unter-
suchung und Entwicklung der Veranlassung zu ei-
nem Vorgange in meiner Seele kan also selbst|<6>
mir kein leerer Zeitvertreib seyn, und wen
meiner Gönner und Freunde es interessiret,
der lernet mich hieraus ganz kennen.

Sey Mann deines Weibes, Vater deines Kindes,
Bürger deines Städtchens saget weiter nichts als
was ich schon tausendmal gehöret, tausendmal
in meinem Leben gelesen hatte, erfülle die
Pflichten, die du in deinem Stande, deinem Amte,
deiner Lage, deinen Umständen zu erfüllen hast.
Du stiftest damit eben soviel Gutes, als iener, der
in den höchsten Ehrenstellen sizet, der die
wichtigsten Thaten für die ganze Welt verrich-
tet, dessen Thaten Ruhm von einem Ende|<7>
der Welt bis zum anderen erschallet. Genug,
wenn du nur durch die Erfüllung deiner Pflich-
ten den Plaz ausfüllest, der dir ist angewiesen
worden. Als Glied der Kette trägest du durch dein
Daseyn ebensoviel zur Erhaltung des Ganzen bey,
als wenn du das erste Glied der Kette wärst.

Ob ich in meiner Lage, unter meinen Umständen,
immer das geleistet, was ich leisten sollen, und können,
dieser Frage Beantwortung ist von meiner Jugend
an immer dasienige gewesen, was ich mir am
schwersten gefunden habe. Ich erinnere mich sehr
wohl, daß ich in der Frühe meiner Jugend, sobald
ich nur zu einiger Ueberlegung gekommen, und|<8>
der Gedancke bey mir rege war, was willst du in
der Welt werden, wie denckest du ihr einmal zu
nüzen, oft diese Frage mir aufgeworfen, aber
auch unbeantwortet gelassen habe. Ich fürchtete,
ihre Beantwortung dürfte nicht befriedigend
für mich ausfallen, und meine Antwort war dann,
daß ich zur Arbeit zurückkehrte, und noch mehr Be-
gierde, Etwas zu lernen, in mir fand, um diese
Frage zu meiner Befriedigung mir einst be-
antworten zu können. Immer glaubte ich mir
selbst nicht genug zu thun, immer fand ich Leute von mei-
nem Alter, von denen ich glaubte, daß sie mehr leisteten,
als ich in ihren Jahren leisten konnte. Nie sah ich
auf dieienigen, welche hinter mir zurück waren,|<9>
nur iene, die mir vorbeywaren waren mein
Augenmerck, diese suchte ich zu erreichen. So ver-
flossen mir die Jahre des Schul Unterrichts, und
es kam die Zeit, daß meine Mitschüler auf die A-
kademie giengen. Auch von mir glaubte man, daß
ich die nöthigen Känntnisse auf der Schule erworben
hätte, welche, um Advokat zu werden, erforderlich
sind. In diesem Zeitpunckte war es, wo zuerst eine
gewisse Unzufriedenheit mit dem, was ich wußte,
lebhaft bey mir sich äusserte, da ich weniger als
iemals im Stande seyn glaubte, die Frage, ob
ich alles das leisten könnte, was ich leisten sollte,
zum Vortheil für mich zu beantworten. Ich wurde
zur selben Zeit, etwan ein halbes Jahr vorher,
ehe ich auf die Akademie gieng, einem Mann|<10>
in hiesiger Gegend bekannt, der Philosophie und
schöne Wissenschaften, mit grossen Känntnissen,
in der Geschichte, dem iure publico und feudali
verband, und welcher mir seine ansehnliche
Bibliotheck mit ausnehmender Gefälligkeit öffnete,
und mit solcher mich bekannt machte. Bey ihm,
und in seinem öfftern Umgange wachte in mir
die Neigung zur Geschichte wieder auf. Kaum,
daß ich fertig lesen konnte, war das Lesen historischer
Bücher mein erster Zeitvertreib gewesen. Mangel an
dergleichen Büchern hatte diese Neigung etwas in
der Folge unterdrückt, obgleich die historischen Schulstun-
den immer die angenehmsten Erholungsstunden für
mich blieben. Bey dem nun verstorbenen Böhmen,[5]|<11>
(dieses war der Mann,) erwachte meine Neigung
in voller Stärcke, und mit einigen Widerwillen
sahe ich mich zum Juristen bestimmt. Wäre ich mein
eigener Herr gewesen, so hätte ich damals noch et-
liche Jahre auf der Schule die Sprachen fortgesetzt.
Aber ich mußte gehorchen! In Jena, wohin ich auf
die Akademie geschickt wurde, folgte ich meiner
angetretenen Bahn mit größter Treue, und
versäumte kein Juristisches Collegium. Der
Neigung zur Geschichte, zur Diplomatik konnte
ich aber doch nicht widerstehen. Auch die zu solchen
Wissenschaften bestimmte Stunden, besuchte ich mit
allem Fleiß. Während dieser Universitäts Jahre
dachte ich nicht an die genaue Beantwortung der|<12>
Frage, ob ich alles thäte, was ich leisten könnte. Ich
übersah die Sphäre, in der ich mich damals befand, und
glaubte alle Pflichten zu erfüllen, indem ich die Collegien,
die ieder Juriste hören muß, gewissenhaft besuchte,
und in den übrigen Stunden mit der Geschichte,
Numismatick, Diplomatick, und Bücherkänntniß
mich beschäfftigte. Oftmals entstand in mir der
Wunsch, das und ienes noch zu erlernen, aber ich
war ausser Stande, länger als 3 Jahre in Jena
zuzubringen. In den Gedancken, alles zu thun,
was ich thun könnte, verstrichen diese Jahre, zu
deren Ende ich examiniert, und zum Advokat
in hiesigen Lande gemacht wurde.

Hier war einige Zeit abermals ein Ruhepunkt für|<13>
mich. Einen Theil des Weges, den ich zurückzulegen
hatte, glaubte ich izt vollbracht zu haben. Es war für
mich Befriedigung, daß ich Advokat geworden. Die
Hoffnung, wenn ich mit der Zeit im Arbeiten fort-
führe, auch noch Mehreres für das, was ich thäte, zu
erlangen, mußte um so mehr eine wohlthätige
Würckung auf mich haben, ie fester ich des Glaubens
bin, [gestrichenes Wort] Verdienst ist die Summe des Lohnes
der Arbeit, welche der Mensch verrichtet. Arbeit war
es, die ich mir nicht nur als Advokat, sondern über-
haupt zu haben wünschte. Wenn diese mir nicht
fehlte: so glaubte ich alles zu thun, was meine Pflicht
erforderte. In diesem Gedanken, unbekümmert
um die Zukunft, erwartete ich solche nicht eher beloh-|<14>
nend für mich, als wenn ich arbeitete. Ich fieng an,
neben den Geschäfften, die ich nun als Advokat
erhielt, zu meinen Lieblings Wissenschaften
einige Zeit zurückzukehren, und brachte das, was
ich mir aus den Vorlesungen über Diplomatick
und Sächs[ische]. Geschichte bemercket hatte, in Ordnung,
auch fieng ich an, Data von der Geschichte Butt-
städts aufzusuchen, und zu sammlen. So vergieng
mir einige Zeit unter zufriedener Beruhigung
meines Herzens; aber die Frage, hat du alles gethan,
was du hättest leisten können wurde izt auf ein-
mal wieder in meiner Seele rege, und ich bekümmer
ter, als ich iemals gewesen, um sie mir zu beantworten.|<15>
hatte sie mich gleich ehemals schon in meinen iüngern
Jahren beschäfftiget: so hatte ich ihre Beantwortung doch
eher damals von mir entfernen, und mich derselben
vor meinem eignen Richterstuhle leichter, als izt, entziehen
können. Damals rechnete ich noch auf meine iungen Jahr,
und was ich nicht gethan zu haben glaubte, das hoffte
ich mit dem Fortschritt der Jahre noch zu leisten, und
fühlte Muth und Lust, zu diesem Zweck keine Arbeit
zu scheuen, keine zu unterlassen. Aber nun fieng ich
an zu glauben, daß die schönste Blüthe meines Lebens,
die Zeit, welche zum Arbeiten, zum Lernen am geschick-
testen sey, wo es sich wenigstens am leichtesten arbeitet,
am leichtesten lernet, schon vorbei sey. Wenn ich gleich Muth
und Lust zur Arbeit in mir fühlte: so glaubte ich doch, wegen|<16>
der schon mehr erlangten Jahre, mich schon nicht
mehr so geschickt, alles zu lernen, was ich lernen
könnte, ieder Arbeit eben so leicht, wie in meinen
frühern Jahren mich unterziehen, und solcher mich
anpassen zu können. Der Ausweg, wo ich der Beant-
wortung dieser Frage sonst bey mir entschlüpfte,
war mir also nun verschlossen. Hast du alles geleistet,
was du leisten konntest, alles gethan, was du in dei
nen Umständen thun konntest, hast du iede Arbeit
ergriffen, die dir aufstieß, und oblag, hast du keine Ge-
legenheit versäumet, die dir Arbeit gewähren konnte,
hast du die rechten Mittel gewählet, den rechten Ort aus-
gelesen, um thätig, um geschäfftig zu seyn, um das, was
in dir lag, zu bearbeiten, es zu deinen und Anderer
Besten anzuwenden? Mit diesen Fragen beschäfftigte|<17>
meine Seele sich des Tages, und des Nachts wurde mei-
ne Einbildungskraft von solchen beunruhiget. Ich
suchte iede Arbeit, drängte mich zu ieder, aber wenn ich
arbeitete, so begleitete mich der Gedancke: ist das die rech-
te Arbeit, die du thun mußtest, die den Kräften, die in
dir liegen, angemessen ist? In solchen Gedancken
wurde ich von Zweiffel hin und her getrieben. Bald
brachte mich ein entschiedenes Ja in die Höhe, bald
demüthigte mich ein Nein hinunter. So verzährte mich
ein ewiger Streit in mir. Auf fröhliche Tage folgten,
bey dem geringsten Anlaß, ganze verdrüßliche
Wochen. Selten, daß ich nach verrichteter Arbeit zufrieden
mit mir, und ruhig in meiner Seele war. Ich glaubte
selten, genug zu thun; mir fehlte Arbeit, ich konnte das
nicht thun, was ich andern gern geleistet hätte, und daß|<18>
ichs nicht konnte, daran gab ich mir immer Selbst
die Schuld. In diesem Zustande erhielt ich Sturzens
Schriften, und las:

sey Bürger deines Städtchens

Die süsseste Beruhigung, der kräftigste Trost gieng
aus solchen Worten in meine Seele über. Ich erkannte,
daß es wohl Stolz, Wunsch nach grossem Ansehn gewe-
sen seyn dürfte, was mich mit unruhig gemacht
hatte, und wurde darüber beschämet. Alles, was
ich hatte thun können, und was mir meine Umstände
nur zu thun verstattet hatten, das hatte ich, wie ich
nun wahrnahm, gethan. Unzufriedenheit mit mir
selbst verschwand, und ich wurde, durch eine Art
eines Sturms in eine Heiterkeit des Körpers, und in
eine Ruhe der Seele mit einem Male versezt. Durch|<19>
Sturzens Worte rechtfertigte ich mir selbst meine zeit-
her angewandte Bemühungen, alles aufzuklauben,
was ich zur Geschichte meiner Vaterstadt finden können,
ob ichs schon immer für die erste Pflicht des Bewohners
ieden Orts gehalten hatte, daß er sich zuvörderst die
Känntniß seines Städtchens erwerbe, ehe er zur Ge-
schichte anderer Städte übergehe.

Freylich ist dem ohngeachtet die Frage, hast du alles
gethan, was du unter deinen Umständen thun
konntest, immer wiederum in meiner Seele
rege geworden, und so wenig als ich izt unterlasse, ich
sie mir immer selbst zu wiederholen: so gewiß
wird sie mich vielleicht mein ganzes Leben hin-
durch, zu meinem Besten, beschäfftigen. Urspüng-
lich bin ich durch dieselbe veranlasset worden, noch|<20>
im vorigen Jahre, in Leipzig pro Schedula zu
disputiren, und mich von der Juristen Fakultät
daselbst examiniren zu lassen, um auch Ad-
vokat in Kuhrsachsen zu werden. Unpartheyische,
welche mich kennen, mögen diese Frage, statt
meiner, beantworten! Als Advokat kan ich be-
urtheilet werden. Meine, als Advokat von mir
gefertigte Arbeiten müssen es entscheiden, ob ich
Etwas, und wieviel ich gethan habe, um die
Stelle auszufüllen, die ich behaupte, wenigstens
müssen sie zeugen, ob man, wenn ich ferner
thätig bin und arbeite, Brauchbarkeit von mir
erwarten kan? Was ich in meinen Lieblings Wissen-
schaften gearbeitet habe, ob ich solche fortgesezet, |<21>
oder ob ich da stehend geblieben bin, wo ich mich befand,
da ich von der Akademie zurückkehrte, dieses habe
ich öffentlich nicht zeigen können. Böhmens Grund-
saz, daß man erst Materialien sammlen, nach
vielmaliger Ausfeilung sie ordnen, und dann
noch Bedencken haben müsse, zu schreiben, ist
mir zu starck eingepräget, als daß ich mich hätte
von einer Schreibsucht können hinreissen lassen.
Doch als Manuscript verbinde ich folgendes noch mit
diesen Aufsaze.


I

Wenn die Graven von Mannsfeld, nach Spangenbergs
Erzählung[6] in seiner Sächs[ischen] Chronik, sich 1515 ge-
nöthiget sahen, Kayserliche Begnadigung aus-
zubringen, um ihre Märckte zu Eißleben, welche wegen|<22>
des Leipziger Ostermarckts, und des Marckts zu
Buttstädt
sehr geringe wurden, zu verlegen:
so war ganz gewiß längstens schon Buttstädt durch
seine Märckte bekannt und berühmt, ehe der Annalist
Müller[7] auftrat, und durch eine unterm Jahr 1470
erzählte Geschichte von Buttstädt dieses Städtchen
noch mehr in Ruf brachte, so daß auch ganz neuerlich
der Verfasser der physiognomischen Reisen[8] daher
Gelegenheit nahm, Buttstädts Ruhm seinen Ochsen
und seiner Gerechtigkeit zuzuschreiben. Wer
sich um die alte Gerichts Verfassung der Deutschen
bekümmert hat, den wird es nicht sehr befremden,
daß der Rath zu Buttstädt 1470 einen Mörder,
noch an dem nämlichen Tage, da er die Mordthat|<23>
begangen hatte, den Kopf ließ abschlagen. So lang-
sam und bedächtig man izt in peinlichen Rechtshändeln
verfähret: so eilig gieng es sonst her. Noch zu Ende des
vorigen Jahrhunderts, ohngefähr 1692, köpfte man zu
Eckartsberge einen Jahrmarckts Dieb, der kaum 4
Wochen gesessen hatte, und wovon die Akten samt dem
eingeholten Urthel von Leipzig in wenig Blättern
bestehen. Den 10 May 1685 wurde Elisabeth Meyers
hier in Buttstädt, weil sie zweymal Feuer angeleget
hatte, eingezogen. Den 30sten Jul desselben Jahres
wurden laut der Cammer Rechnung, und des darinn
verrechneten Bothenlohnes, die Akten nach Jena an den
Schöppenstul gesendet; den 4ten August, ließ man sie
wiederholen, und den 14 August wurde die Inquisitin|<24>
verbrannt. So wenig man eine Spur in den Akten des
Amtes Eckartsberge findet, daß man zur Vollziehung
der dem Diebe zuerkannten Todesstrafe die Landesherrl[iche]
Erlaubniß eingeholet hat: so sicher lässet sichs aus der
Geschwindigkeit, mit der man in Buttstädt 1685 das
Meyer[sche] Urthel requiriret hat, schliessen, daß die
Landesherr[liche] Erlaubniß zur Vollziehung des Urthels
auch hier, als überhaupt noch nicht so nöthig, als izt,
nicht ist eingeholet worden. Bey alle dem konnte es
einem Eingebohrenem von Buttstädt nicht gleich-
gültig seyn, den und ienen schrift[lichen] und münd[lichen]
Spott über diese Geschichte zu hören. Einen runden
ungepflasterten Plaz vor dem Rathskeller zu Butt-
städt, mitten fast auf dem ganz gepflasterten
Marckte bezeichnete die Tradition als den Plaz, wo Claus|<25>
Antonius[9] 1470 wegen seiner Mordthat hingerichtet
worden sey. Als 1768 der Marckt von neuem gepflaster
wurde, wurden die Pflasterer stutzig, als sie an diesem
Plaz, von dem man behauptete, er leide kein Pflaster,
gelangten, und es mußten Abgeordnete vom Rathe
dabeyseyn, als sie ihn, nach erhaltener Versicherung,
daß solches ihrem Handwerck nicht nachtheilig seyn sollte,
pflasterten. Damit er auch das Pflaster leiden möchte,
legten sie erst grössere Steine in Form eines Kreuzes
über den Plaz her, und füllten alsdann erst die leeren
Felder mit kleinen Steinen aus. Dieser Aberglaube, der
durch die Folge, da kein Stein vom Plaz sich beweget hat, noch
lächerlicher wurde, machte nochmehr, daß ich an der Geschichte dieser
Exekution zweiffelte. Der Müller[schen] Erzählung glaubte
ich am besten zu begegnen, wenn ich nach der Quelle|<26>
forschte, woraus Müller seine Erzählung gewonnen
habe. Diese fand ich in dem Manuscript, woraus die
Annales sind abgedruckt worden.[10] Eigenhändig hat
Müller darinne Canzley Akten als seine Quelle an-
gegeben. An der Wahrheit dieser Geschichte konnte ich
nun nicht länger zweiffeln, ob ich gleich wegen der
einzelnen Umstände derselben, da mir die Akten
aus dem Archiv, aus welchem Müller sie hatte, ver-
saget wurden, immer noch unbefriediget war, bis
ich endlich noch eine andere Nachricht hierüber in der
Raths Repositur zu Buttstädt ausfindig gemacht habe.
Von Benedictus Ladensack [?], der 1590 Stadtvoigt in Butt-
städt geworden, befindet sich in gedachter Repositur ein
Manuscript in kl[ein] Fo[lio] auf Papier, in welches derselbe von
1410 an die Stadtvoigte und Rathsherrn namentlich ver-
zeichnet, und hier und da verschiedenes, obgleich wenig, von|<27>
der Geschicht der Stadt erzählet hat. Dieser erwähnet, fast
mit gleichen Worten, wie sie Müller erzählet, dieser Ge-
schichte, nur daß er noch Etwas weitläuftiger der Formali-
täten des Processes gedencket, und hat ausdrücklich darüber
gesezet:

Historia vera.

Ein Augenzeuge ist Ladensack [?] nicht. Aber seine Erzählung
ist so beschaffen daß sie allen Glauben verdienet. Es
findet sich in derselben zwar keine Spur, daß er sie
aus Raths Akten genommen habe, vielmehr saget er;
wir werden aber berichtet von den Eltisten das solche
(die Hinrichtung) bey strowuschen [?] soll geschehen seyn,
auch erzählet er nur, daß die Eltisten es anzeigten, daß Her-
zog Wilhelm von dem Rathe zu Buttstädt Bericht erfordert habe;
aber wenn er auch schon über 100 Jahr nachher schrieb: so
lebte er doch in dem Orte, wo die Geschichte geschehen war.
Nicht nur er war in solchem gebohren, sondern seine Aeltern|<28>
und Großväter waren, wie er saget, auch im Rathe ge-
wesen. Schon 1522 war sein Vater, Erhart Ladensack, wie er
bey diesem Jahre erzählet, zum Rathsherrn erwählet worden.
Dieser konnte noch Augenzeuge, von Antonius Hinrichtung
1470, gewesen seyn. Ueberdieses erwähnet er in seiner
Vorrede überhaupt, daß er die alten Bücher mit Fleiß ge-
lesen habe. Alle diese Umstände machen ihn zu einem
glaubwürdigen Geschichtsschreiber, und da Müller
noch aus einer andern Quelle diese Geschichte erzählet:
so dürfte es vergebens seyn, einem Spotte über dieselbe
durch Bezweiflung ihrer Wahrheit entgehen zu wollen.
Wahr ist und bleibet sie, aber immer kein Vorwurf der
Grausamkeit des Raths zu Buttstädt. Vermöge einer
Begnadigung von Landgraf Friedrich von 1408 war
Buttstädt berechtiget, pein[liche] Gerichtsbarkeit auszuüben.
Der Rath zu Buttstädt that hiernach weiter nichts, als
daß er durch diesen Fall seine Rechte der Voigtey aus-|<29>
übte. Was die damaligen Formalitäten des Processes
waren, das wurde nach Ladensacks Erzählung beobachtet.
Die Vaterbruderssöhne des Entleibten folgten dem
Thäter nach, und liessen ihn bestetigen, und klagten zu
Ihme vor Gerichten in die Achte, alß Halsgerichte recht
ist, mit Zetergeschrey, mit gewapneter Hand, mit ge-
strecktem Schwerte, ward also Claus Antonius zum dritten
Gerichte verbracht in gegenwertigkeit des todten Leichnams,
und angehört solch Zetergeschrey und anforderung. Dann erst,
als Antonius nicht um Gnade gebethen, wie Ladensack,
erzählet, wurde er dem ältesten Schwerdtmagen[11] des
Entleibten zugetheilet. Auf eine Bitte um Gnade scheinet
der Rath geantwortet zu haben. Denn Ladensack saget, Antonius
sey nicht so ehrsam gegen seine Freundschaft und den
Rath gewesen, daß er um Gnade gebethen hätte. Spotte
also wer da will, mit Hinwegsezung über die Zeiten
des 15ten Jahrhunderts, über das Verfahren des|<30>
Raths zu Buttstädt. Unter solchen Umständen, als [die]
Geschichte hirvon aufbehalten hat, ist es dem Einge-
bohrnen von Buttstädt höchst gleichgültig, diese Hand-
lung des Stadt Raths von Andern getadelt zu sehen
welche vielmehr ein Beweis der ansehnlichen Rechte
der Stadt ist.|<31>

II

Gatterers [12] Aeusserung in seiner Diplomatik, als
wären in Deutschland keine schwarzen WachsSiegel
anzutreffen, ist längstens als nicht allgemein wahr
bekannt. Ausser den H[och]E[dle]n Staats Minister von Herz-
berg, welcher schwarze Brandenburg[ische] Siegel bemercket
haben will, führet Spieß de Aurea bulla Rudolphi[13] ver-
schiedene schwarze Wachssiegel an, und in Böhmens
Beyträgen zur Untersuchung der Schlesischen Rechte
und Geschichte im 4ten Stücke des ersten Bandes,[14] und
im 6ten Theile p[agina] 200, kommen 2 schwarze Wachssiegel
aus Schlesien vor.

Ein Thüringisches schwarzes Wachssiegel ist, meines
Wissens, nirgends noch aufgefunden und bekannt ge-
macht worden. Desto größer ist die Seltenheit, welche die
Raths Repositur zu Buttstädt, bey den wenigen alten noch vorhande-
nen Urkunden, in sich schließet, indem sie ein schwarzes
Wachssiegel aufzuweisen hat. So fleißig ich bey An-|<32>
schauung dieses Siegels an des Herrn Professor Müller[15]
zu Jena Behauptung zurückgedacht habe, daß wohl
vielfältig das izt dunkelbraune, oder schwärzlich
scheinende Wachs ehedem grün gewesen seyn könne,
so müßten mich doch meine Augen sehr trügen, wenn
solches nicht ursprünglich schwarz seyn sollte. Es
hänget dieses Siegel an einer Urkunde von 1504,
auf Pergament. Die Capsel ist von schlechtem Wachse,
und couver [?]. Der Rath zu Buttstädt hat dasselbe als
sein StadtSiegel an solche Urkunde gehangen, in
welcher der Pfarrer Günther[16] zu Buttstädt die Collation
zweyer Vikareyen, welche ihm sonst zustand, an den Rath
zu Buttstädt resigniret. Die Figur und Umschrift ist fast
verlohren, doch scheint es der hei[lige] Lorenz auf dem
Roste zu seyn, wie ihn Buttstädt noch izt im Wappen
führet, und die Umschrift möchte: Sigillum civitatis |<33>
in Bodellstedt[17] lauten.

Diese Urkunde ist außerdem wegen ihrer Sprache,
und Inhalts mir nicht wenig merckwürdig. Frey heraus
saget ein solcher Pfarr Günther, wenn die Vikarien
in den Päbstlichen Monaten erlediget würden, so
gelangten solche an Curial- und Fremde Priester der
dann keiner zur Besizung käme. Dadurch geschähe
diesen Lehnen an Messen, an der Behusung [?] auch aller
Hantreichung täglicher Abbruch. Diese freye Sprache
düncket mir eine Folge von der Gewalt in geistlichen
Sachen zu seyn, welche die Fürsten von Sachsen, nach
Reinhardten de iure principum curia sacra schon
vor der Reformation hatten. Ein geringer Pfarr
würde schwerlich eine laute Klage der deutschen
Nation über das Unwesen bey Vergebung der
geistlichen Pfründen, für seine Person gewaget |<34>
haben, wenn er nicht Schuz von Landesfürsten zu hoffen
gehabt hätte, und das Päbst[liche] Ansehn schon damals sehr
wäre gefallen gewesen.

Aber noch Etwas Merckwürdiges enthält diese Urkunde.
Der Pfarr Günther behält sich, und seinen Nachfolgern
das ius primararum precum[18] in solcher bey Verleihung
dieser zwey Vikareyen vor. Ein merckwürdiges
Beyspiel, daß eine PrivatPerson das Recht der ersten
Bitte besessen hat, dergleichen ich noch nicht weiß!

Hier sind die Worte der Urkunde selbst:


    Doch also das ich vor mich und alle meine
    nachvolger die erste Vethe [?] an den selbigen
    zweien Lehen zu behalden vßgezogen, also
    bescheidentlich vor wen odir welche ich odir mei-
    ne nachkömmlinge der odir die priester|<35>
    weren, odir in einem Jahre priester
    werden wollten, bitten würden das der
    Rath dieselbigen mit solchen vicarien belehnen
    sollen one alle widerrede p.

Immer fein ausgedacht war diese Resignation der
2 Vikareyen! Die Pfarr waren auf diese Weise im-
mer versichert, daß die, welchen sie die Vikarien gönnten,
solche bekommen, und hatten nicht zu besorgen, daß in den
päbstlichen Monaten eine solche erhielt, der nicht
nach Buttstädt kam, und ihnen nicht an die Hand gieng.

% Johann Carl Christian Lauhn

Notes

  1. Helfrich Peter Sturz (geb. 16. Februar 1736 in Darmstadt; gest. 12. November 1779 in Bremen), Essayist und Aufklärungsschriftsteller. Ein erster Teil Schriften erschien 1776 in Leipzig, der zweite (postum, hg. von Christian Heinrich Boie) 1782 ebd. Die hier zitierte Stelle findet sich im ersten Teil in einem Aufsatz mit dem Titel „Von ein Paar alten Münzen“ auf S. 214f.
  2. Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers. Zweyter Theil, Leipzig 1774, S. 206.
  3. Ossian ist der Name des Erzählers in den Gesängen Ossians, einem angeblichen altgälischen Heldenepos, das in Wahrheit von dem schottischen Schriftsteller James Macpherson (1736–1796) stammte, was aber erst nach Goethes Tod herauskam.
  4. Werther hatte Lotte aus seiner Ossian-Übersetzung, die er ihr bei früherer Gelegenheit gegeben hatte, vorgelesen.
  5. Johann Ehrenfried Böhme (1723-1778).
  6. Männlicher Verwandter (Grimms Wörterbuch)
  7. SPIES (SPIEß), Philipp Ernst: Bulla aurea Rudolfi I. Romanorum regis, quae Plassenburgi in archivo Brandenburgico asservatur, exhibita et descripta additis quibusdam ad sphragisticam annotationibus haud inutilibus. Bayreuth, Lubeck, 1774. Seltene Abhandlung über das Goldsiegel Rudolfs I. von Habsburg im Geheimen Hausarchiv der Hohenzollern auf der Plassenburg, wo der Autor (1734-1794) als Archivar tätig war.
  8. Johann Ehrenfried Böhme, Diplomatische Beyträge zur Untersuchung der Schlesischen Rechte und Geschichte, Bd. 1, Berlin (Haude u. Spener) 1770.
  9. Das Buttsädt benachbarte Buttelstädt].