D-Q6617

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Commentary

Kein Aufsatz, sondern ein narrativer philosophischer Text mit kleiner dialogischer Einlage – sehr durchsichtig komponiert, so dass bereits die Exposition der Umstände den Gang der Handlung vorwegnimmt. Aristides hat in seiner Verbannung das unbezahlte Amt in einem Tempel der Minerva übernommen, gleichzeitig auf dem Gelände jedoch auch für den Bau eines Tempels der Fortuna arrangiert. Zu ihm gelangt man nur von „ohngefähr“, das heißt, über einen der Sicht verborgenen Hintereingang. Der Sicht zugewandt ist dagegen ein Klippenhang, den niemand graden Wegs ersteigt. Jeder kann dagegen den Tempel der Minerva besuchen.

Der junge verzweifelte Hipparch kommt aus Athen, um der Göttin des Glücks zu huldigen. Sein Ziel ist es, entweder die Olympiade zu gewinnen, oder als Feldherr von Athen höchste Ehre zu und beides steht nicht in Aussicht, was ihn mit dem Gedanken spielen lässt, ehrenvoll den Freitod zu wählen.

Aristides rückt die Dinge in ein klareres Verhältnis mit der Frage, wie viele Gewinner es bei den Spielen gebe und wie viele der Feldherr sein könnten – und ob demnach die anderen sich besser umbringen sollten. Er demütigt Hipparch im zweiten Schritt mit der Offenbarung, dass er selbst beiderlei Ehre genoss: Olympiagewinn und Feldherrenglanz ohne, dass ihm dies vor der ungerechten Verbannung eines Scherbengerichts schützte (bei der er im Übrigen gegen sich selbst stimmte).

Hipparch wird im Tempel der Minerva sein Schüler und begreift, dass dies der Ort ist, an dem man sein Glück wahrhaftig macht.

Ich sah nicht auf Anhieb, wo die Geschichte herkommt.

Siehe SK13-047 mit einem aus der Geschichte schöpfenden Versuch weitgehend desselben Themas aus der Feder des Anfang 20jährigen der sich mit solchem sowohl in Greisenweisheit demütig wie klassizistisch gebildet zeigt.


Transcript

VI. N.3.

Butus d 18 Bahmann 1155

Er hat sein Glük gemacht.

In einer der schönsten Gegenden Griechenlands, im attischen Gebiet, hatte vor Zeiten
ein edler Mann, der dort Landgüter besaß, der Minerva einen Tempel gebaut. Um
anzudeuten, daß der Weg zur wahren Weisheit nicht ganz ohne Beschwerden sei, lag
er etwas erhaben, u[nd] der Zugang zu ihm war uneben und dornicht, aber nirgends
ganz unwegsam oder unersteiglich. Rund um ihn grünte ein heiliger Hayn von
Oliven, Cypreßen und Pappeln, und das flüsternde Lispeln dieser Bäume lud
zum heiligsthaften Nachdenken ein; aber auch Myrthen u[nd] Rosen blühten hier,
und boten sich dar, um die Schläfe und Becher wahrer Weisen zu kränzen.

Gegen über hatte eben dieser Mann der Göttin des Glüks einen Tempel errichtet,
aber ihn mit Absicht auf einem schrofen Felsen angelegt. Auf einer einzigen
Seite war ein sehr bequemer Zugang zu ihren/den [?] Tempel, den er aber mit Gebüsch
u[nd] Hecken so verstekt hatte, daß man durch ein Ohngefähr ihn finden konnte.
Denn der Edle hatte lange unter den Menschen gelebt, u[nd] den Gang der Dinge
genau beobachtet. - Aristides, dieser große Mann, den Athen, seine undank-
bare Vaterstadt, aus ihren Mauern verwiesen hatte, erwählte den Hain umdiesen
Minerven Tempel zu seinem stillen Aufenthalt; hier hatte er sich eine dürftige
Hütte gebaut, lebte als unbekannter, einsiedler[ischer] Greis, u[nd] besuchte tägl[ich] den Tempel
als ein freiwilliger Priester der Göttin der Weisheit. Seine Mitbürger hatten ihm wohl
sein Vaterland, seine Güter, seine Würden rauben können, aber nicht jenen erhabnen
Zunahmen: der Gerechte, den ihm ein einstimmiges Volksurteil zuerkannt hatte. Auch
in diesem Winkel Griechenlands war er noch Er Selbst, der Weise u[nd] Denker, deßen
Ruhe u[nd] Glük kein wüthender Pöbel u[nd] kein widriges Geschik untergraben konnte,
der große Mann, der einst mit Lächeln sein eignes Verdammungsurteil auf die
Scherbe schrieb. Zu ihm, als einem unbekanten Weisen, kamen oft die Männer der
Gegend, fragten ihn um Rath u[nd] giengen belehrt u[nd] gebeßert wieder von ihm.
Ein Freund der Natur, der in ihrem Anschauen u[nd] Genus so gern verweilte, hatte
er sich hie u[nd] da in dem schönen Hain Lauben geflochten, u[nd] oft sah ihn das Sternen-
heer, das sich über seinem Haupt drehte, u[nd] in deßen Bewundr[un]g er versunken
war; oft wekte ihn hier die Morgensonne mit ihrem ersten rothen Strahl, wenn |<3002>
ein süßer Schlummer ihn beim Nachdenken überfallen u[nd] eingewiegt hatte. In einer
dieser Lauben, nahe beim Tempel Fortunens, saß er meist an einem heitern Sommermorgen,
den Homer, seinen beständigen Begleiter in der Hand. Durch die kleinern Zwischen-
räume seiner dichten Geisblattslaube sah er einen Jüngling daher eilen, schön wie
Apollo; ihn aber konnte der Jüngling nicht sehen. Der junge Grieche kam näher
u[nd] suchte einen Weg, um zu dem Tempel hinauf steigen zu können. Aber nur
ein Riese aus der fabelhaften Vorzeit konnten [!] die Felsstücken ersteigen, auf deren
aufgethürmten Hügel der marmorne Tempel prangte; u[nd] den verstekten ebnen
Weg lies das Ohngefähr sein suchendes Auge nicht finden. Muthvoll versuchte
ers, hinaufzuklimmen; drei – viermal schwebte er an den Klippen, - aber
mit blutigen Händen sank er eben so vielmal wieder zurück. Im äusersten
Unwillen warf er sich an dem Fuß des Felsens nieder; seine gekränkte Seele machte sich
durch Worte Luft. – „So soll ich [nicht] einmal deine Schwelle betreten, Tempel der größten unter
den Göttinnen, um zu ihren Füßen Gebete u[nd] Gelübde aus zu strömen, u[nd] dann mit gestärk-
temr MutHofnung meinem Glük entgegen zu eilen. Traurige Vorbedeut[un]g! ist mir der
Zugang zu deinem Altar schon versagt, wie viel weniger wirst du mir deine Gunst
schenken, eigensinnige Göttin! wie unglükl[ich] ich bin! – Aristides hörte nie Unglükliche
klagen, ohne zur Hülfe, wenigstens zum Trost herbei zu eilen; er rollte seinen Dichter
zusammen, trat aus seiner verborgenen Laube und grüßte den klagenden Jüngling.
Die Würde des Greises zwang diesen zum Gegengrus: sanft redete Aristides ihn an:


    A. Wer bist du, trauriger Jüngling?
    H. Ich heiße Hipparch, antwortete dieser, u[nd] bin 2 Tagreisen gegangen, um in diesem
        Tempel anzubeten; aber leider! kann ich ihn nun [nicht] ersteigen!
    A. Du irrst dich vielleicht, Jüngling! Du suchst wohl den Tempel der Pallas, der tiefer im
        Dunkel des Hains liegt.
    H. Ich irre mich [nicht] Greis! Schon lange sehne ich mich danach, vor dem Altar Fortunens an-
        beten u[nd] mir ihren Beistand erflehen zu können, um mein Glük zu machen.
    A. Dein Glük zu machen? – Wie alt bist du Hipparch?
    H. Dies ist die 6te Olympiade, die ich erlebe.
    A. Du über 20 Jahre alt, u[nd] hast dein Glük noch [nicht] gemacht. Bedauernswürdiger Jüngling!
    H. Ja wohl bedauernswürdig! Aber konnt ich anders. Ich habe eine Mutter, von der
        ganz Athen sagt, daß sie weise u[nd] klug sei. Sie hat mich angehalten, nun schon jahre-
        lang die Schulen der Weisen zu besuchen, aber noch verbietet sie mir, Ehre u[nd] Sieg beim
        Wagenrennen, beim Wettlauf od[er] beim Diskuswerfen davon zu tragen u[nd] mein Glük zu machen[.]|<3003>
    A. Hast du denn in den Schulen der Weisen dein Glük noch [nicht] gemacht?
    H. Du spottest, Greis! Da hab ich wohl jahrelang gehört, was eigent[lich] Tugend, was
        Recht u[nd] Unrecht sei; wie man ruhig u[nd] zufrieden leben; wie man das Wohl des
        Staats an seinem Theil befördern müße; aber nichts davon, wie man sein Glük mach[en] könne.
    A. Nun, bei allen Göttern, so sage mir doch, wie glaubst du denn, daß man eigent[lich] glükl[ich] werde?
    H. Du fragst noch? Das lehrt dich ja die Stimme des ganzen Volks, das hört ja der Knabe auf
        dem Spielplaz schon. Glüklich ist der, Wer in den olymp[ischen] od[er] nemeil.[?] Spielen[1] den Lorbeer
        od[er] Eichenkranz davon trägt, wer als erster Feldherr einen dreimalstärkern Feind
        schlägt, wer sich vom Volk mit Ehrensäulen und Jubelgeschrei belohnt sieht, - der hat sein
        Glük gemacht. Und drum will ich jezt nach Olympia, dort vor dem versammelten
        Griechenland entweder Vergötterung zu erkämpfen, od[er], wenn mir das [nicht] gelingt,
        durch einen Dolchstos ein unglükliches freudenloses Leben zu enden.
    A. In Wahrheit, ich lerne viel neues von dir. Sage mir doch, hitziger Jüngling, wie viele
        können denn Sieger werden in Olympia?
    H. Jedesmal sind 5 Preise zu erkämpfen.
    A. Und wie viel erste Feldherrn braucht denn Athen in einem Krieg?
    H. Einen; denn sonst könnte er ja [nicht] der erste seyn.
    A. Und doch hat Griechenland so viele tausend Einwohner! O wie muß ich da meine armen
        Landsleute bedauern! Unter der zahllosen Menge, die, wie du meinst, unglükl[ich]
        sind, sehe ich kaum ein paar Glükliche umhergehen, die oft das Ohngefähr zu dem machte
        was sie sind. Also alle die, die nicht theuer gekaufte Pferde haben, um im
        Wagenrennen, die an einem Fuß lahm sind, um im Wettlauf, od[er] denen
        vom Feind im ehrenvollsten Kampf eine Hand abgehauen ist, um im
        Ringen siegen zu können, alle die tausend tapfern, aber gemeinen
        Soldaten, die eben erst den Ruhm ihres Feldherrns Gründen, alle die sind
        unglük[lich]? Alle die braven Bürger, die [ergänze: in] ihren Werkstätten für unsere Be-
        quemlichk[eit] u[nd] Vergnügen sorgen arbeiten, od[er] den Feldbau besorgen, - alle die sind
        unglükl[ich]? – Und nur ein paar olymp[ische] Sieger, die durch die schnellen Schenkel
        ihrer Pferde, od[er] ihren riesenmäsigen Körperbau das wilde Zurufen
        des Volks erwarben, haben ihr Glük gemacht? –
    H. Freil[ich] gäb es da der Unglükl[ichen] und so viele! – Aber doch sagt man immer so.
    A. Die Stimme des Volks, mein Sohn, ist [nicht] immer die Stimme [ergänze: der] Wahrheit. In allen
        Menschen liegt der unauslösch[liche] Durst glük[lich] zu werden u[nd] alle müßen also
        von den guten Göttern dazu bestimt seyn, müßen es werden können. |<3004>
        Auch ich kenne die Sprache des Volkes, das den nur glüklich preißt, der theure
        Speißen ist, od[er] auf weich[en] Polstern liegt, od[er] mehrern befehlen kan; aber nur
        schwache u[nd] undenkende M[enschen] können so reden, nur schwache u[nd] undenkende
        dies wie ein[en] Götterspruch glauben. Wiße Jüngling, ich bin Aristides. (Hi-
        parch trat voll Ehrfurcht zurück.) Ich habe dreimal in den olymp[ischen] Spielen
        gesiegt, ich habe als erster Feldherr Siege erkämpft u[nd] Heere geschlagen, ich habe
        bin im Triumpfgepränge zu den Thoren meiner Vaterstadt eingezogen, ich
        habe Athen regiert; meine Mitbürger haben mich angebetet, u[nd] – aus ihren
        Mauern verwiesen. Aber weder ihre Vergötterung noch ihr Scherbenge-
        richt hat mich glüklich od[er] unglükli[ch] gemacht; über beides sah ich, als über
        ein Spiel eigensinniger Knaben weg. Mein Glük wohnt in mir;
        es mit mir in diesen heiligen Hayn geflüchtet. Sieh du konntest nicht in
        den Tempel der Glüksgöttin kommen, weil dich der Zufall nicht ebe[n?]
        von der Seite herführte, wo du den einzig[en] Weg zu ihrer Schwelle gewahr
        werden konntest, den oft ein unwürdiger Thor ohne Suchen findet. Und
        so wie du, mühen sich tausende, fallen halbzerschmettert von der Felsen-
        wand wieder herunter, u[nd] ersteigen ihn nie. Der Tempel des wahren
        Glüks, muß jedem zugäng[lich] seyn. Kom mit mir zum Altar der
        Weisheit; der Weg zu ihr ist nicht immer blumigt, aber jeder, der
        ausdauert, gelangt doch end[lich] dahin. –

Der erröthende Jüngling folgte schweigend der Führung des Greises
u[nd] opferte auf Minervens Altar. Er konnte sich von seinem weisen
Lehrer so bald nicht wieder trennen; drei Monde verweilte er in den
ehrwürdigen Schatten dieses stillen Waldes, und wenn ihm Aristides
im Angesicht der untergehenden Sonne, od[er] des Vollmonds u[nd] der
wandelnden Sterne, eine neue Lehre gab, od[er] von seinen Auge einen
Schleier mehr wegzog, dann faßte er feurig u[nd] dankbar die Hand
des Alten, u[nd] rief entzückt aus: Vater, nun hab ich mein Glük
gemacht!


Friedrich Gronovius

Notes

  1. Muss recherchiert werden, was für andere Spiele es da gab.