D-Q6629

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Commentary

Spannender Aufsatz in seinen Aussagen zur sozialen Schichtung.

Es geht hier, so die Klärung vorab allein um die „gesitteteren“, „edlen“ Stände, als die, die Aufklärung bei sich selbst bewirken können. Darunter liegen Stände für die ganz anders nachzudenken wäre – Aufklärung wird bei ihnen ganz anders berwirkt.

Die Arbeit müsse an den Hindernissen ansetzen, die sich der Aufklärung entgegenstellen. Das erste ist „Schwärmerei“ im breiten Spektrum von den ersten Christen, die den Märtyrertod umarmten, über die Mönche, die sich in Einsiedeleien zurückzogen bis zu den Christlichen Missionaren, die in anderen Kulturen zum Königsmord aufriefen.

Die einzelnen Sekten sahen sich immer durch die Bibel im Recht – Ausbau der These in Richtung schwarze Magie: manche glaubten gar Gold machen zu können. Schwärmerei definiert als Tendenz, die Dinge nicht vernünftig zu sehen (wie sie sind), sondern sie so zu sehen, wie man sie sehen will.

Die Aufklärung muss, was diesen Punkt anbetrifft, von oben kommen, aus der hand weiser Männer erfolgen, die ihre Absichten verbergen müssen – sehr schöne en passant Legitimation der geheimen Gesellschaften:

    …den weisen, aufge-
    klärten Männern des Volks wird es nur dann ge-
    lingen die umgeworfenen Stützen der Aufklä-
    rung wieder herzu stellen, und die Vernunft
    wieder in ihre verlornen Rechte einzusetzen,
    wenn sie ihre Absicht vor dem Haufen zu ver-
    bergen wissen.

Hindernis zwei ist entgegengesetzt: „Trägheit des Geistes“ und mündet abermals in ein Dilemma: Diesmal ist das Problem nicht, die Unentscheidbarkeit, ob man etwas annimmt, weil es so ist, oder nur, weil man es so sehen möchte, diesmal entsteht neue Unentscheidbarkeit, weil Trägheit des Geistes in Bereitschaft, Glauben zu übernehmen, mündet aber auch in Zweifelssucht, in den bequemen Zweifel an allem.

Drittens ist Leichtsinn ein Risiko, insbesondere bei der Jugend.

Teil zwei des Aufsatzes wechselt die Ebene – nun geht es um die Frage, wie man sich selbst aufklären kann (den die gesitteten Stände müssen diese Leistung ja aus sich selbst heraus erbringen). Wie von selbst ist die Argumentation männlich zentriert.

    Nur Jünglinge und Männer mit gesundem
    Verstande, nicht ganz schlechten Anlagen und einiger
    Kenntnisse und Fähigkeiten versehen sind im
    Stande, sich selbst aufzuklären; daher das Hülfs-
    mittel, das ich hier angeben werde, auch nur
    bei diesen anwendbar sein wird.

Selbstkenntnis – insbesondere in der moralischen Selbsteinschätzung – ist hier der einzige Weg. Das Ziel ist es Vorurteile abzubauen. Ein eigenes Autoritätsgefüge tritt unmerklich in die Argumentation ein: Wir erlangen Aufklärung im Umgang mit aufgeklärteren Männern (und allein in diesem Zusammenhang sei das Reisen und Lesen dienlich, es bringe in Kontakt mit diesen Weisen):

    müssen wir die
    Schriften aufgeklärter Männer lesen und mit
    aufgeklärten Personen Umgang pflegen.
    Lezteres ist besonders von großen Nutzen,
    weil wir hier unsre Zweifel vortragen
    und um Aufschluß und Belehrung bitten
    können. Man giebt gewöhnlich das Reisen
    als ein vorzüglich brauchbares Mittel an, sich auf zu klä-
    ren, und dies ist es auch in der That, in so fern
    es uns nemlich Gelegenheit verschafft, uns mit
    den aufgeklärtesten Männern jedes Landes zu
    unterhalten.

Die praktische Arbeit an der eigenen Aufklärung gewinnt eine platonisch essentialistische, idealistische wie sprachkritische Seite: Wir müssen uns von den falschen Begriffen lösen, die wir haben, die richtigen Begriffe lernen. Das geht heimlich über in die anderen Aufsätze, die gerne um bessere Begriffe und Definitionen ringen.

Wo Selbsterkenntnis nötig ist, um sich aufzuklären und der Kontakt zu aufgeklärteren Menschen hilft, wird Menschenkenntnis die oberste Wissenschaft, da wir mit ihr die passenden Lehrer finden.

Schriftstellerei und Lektüre sind im Ausklang als Wege der Aufklärung in Frage gestellt. Ein Problem wird vor allem, dass es einen Habitus gibt, der nach Aufklärung riecht, aber gerade keine Aufklärung ist – hier ist Raum für eine Invektive gegen die Freigeisterei und einen Hieb gegen die Religionskritik (schon oben fiel beiläufig, dass das Evangelium gerade nicht zur Schwärmerei ansetze – eine Bemerkung, die die Christliche Religion als die wahre aufgeklärte im Rennen behielt):

    Nichts ist leichter – um
    dies beiläufig zu sagen – als sich in den Ruf
    zu setzen man sei ein helldenkender, aufgeklär-
    ter Kopf; man darf sich nur stellen, als verachte
    man die Religion und hege über alle Dinge
    eine von der gewöhnlichen ganz verschiedene
    Meinung, so wird man diese Absicht gewiß
    nicht verhehlen; denn gewöhnlich hält der unauf-
    geklärte und also größere Theil der Menschen
    jeden Freigeist, für einen aufgeklärten Mann
    und jeden wahrhaftig aufgeklärten Mann,
    für einen Freigeist.

Die zweite Autorität sind die alten Griechen…

Der Aufsatz scheint bereits in der Akte fragmentarisch, die vorletzte Seite fehlt.

Transcript


l:/

Was für Hülfsmittel sind darzu erforderlich,
bei sich, oder andren Aufklärung zu bewürken?

Wenn ein denkender Mann ein Vorhaben aus-
führen will, wird er gewiß nicht blindlings dieses
oder jenes Mittel ergreifen; weil es ihm das ohnge-
fähr zuerst darbietet, er wird vielmehr lange und
genau prüfen, um dasjenige ausfindig zu machen,
durch welches er am ersten und sichersten, seinen
Zweck zu erreichen, fassen kann. So wie ein
Wanderer seinen Weg in einer ihm unbe-
kannten Gegend nur erst alsdann antreten
wird, wenn die gesunkenen Nebel ihm eine freie
Aussicht verstattet haben. Je wichtiger aber
ein Unternehmen, desto nöthiger ist eine
genaue Prüfung der Mittel. Niemand wird
daher abläugnen, daß die Prüfung der Mittel,
durch welche Aufklärung befördert werden kann,
mit einer besonderen Strenge und Genauig-
keit müsse angestellt werden, und daß sie
ein Gegenstand sei, der die Aufmerksamkeit
aller Scharfsinnigen, gutdenkenden Männer ver-|<2>
diene. Denn giebt es wohl etwas wichtigers für
den Menschen als Aufklärung? Können wir
wohl ohne sie unsrer Bestimmung ein Genüge
leisten, unsre Pflichten als Bürger und Menschen
erfüllen? Und kann wohl Kultur – ohne die
wir zu den bedauernwürdigsten Zustand herab-
sinken – ohne Aufklärung bestehn?

Da ich hier die Frage: Was für Hülfsmittel
sind darzu erforderlich, bei sich, oder andern Auf-
klärung zu bewürken? abzuhandeln unternom-
men, so glaube, um allen Mißverstand zu
vermeiden, vorerst erinnern zu müssen, daß
ich hier allein auf die gesitteten oder edlen Stän-
de Rücksicht nehmen werde. Zwar scheint diese
Einschränkung den ersten Anblick nach nicht
in der Frage enthalten zu sein, nichts desto
weniger liegt sie aber würklich in derselben;
denn nur von Leuten aus den gesitteten Ständen
kann man behaupten, daß sie sich selbst auf-
klären, auch werden sie alleine im Stande sein
bei andern wahre Aufklärung zu bewürken.
Diese Erinnerung schien mir hier um so we-
niger überflüßig, da ich bemerkt zu haben glau-
be, daß man sehr oft, wenn von Aufklärung|<3>
die Rede ist, die gesitteten Stände mit den ungesit-
teten vermengt, oder doch diesen Unterschied ver-
nachlässigt; da doch die letztern nicht nur einen
weit geringern Grad von Aufklärung nöthig ha-
ben, als die erstern, sondern auch zu dessen Er-
langung, oft ganz anderer Mittel bedürfen.

Da die Hülfsmittel durch die man bei
sich, oder andern Aufklärung bewürken will, vor-
nemlich geschickt sein müssen, die Hindernisse zu
heben, die der Aufklärung im Wege stehen, so
wird es nicht zwekwidrig sein, einige derselben
anzuführen.

Schwärmerei, die Mutter der blutgierigsten
Intoleranz, des schwärzesten Aberglaubens und
der gröbsten Irrthümer, verdient hier die erste
Stelle. Wem ist nicht bekannt, was für namen-
loses Elend Schwärmerei in der Religion über das
Menschen Geschlecht verbreitet, und wie sehr sie
das sanfte Licht der Vernunft verdunkelt hat,
das das Evangelium über alle Völker ausbreiten
sollte. Wer schaudert nicht zurück, wenn er
liest, wie die ersten Christen zu tausenden
den Märtürertod suchten und zu tausenden
mit Gewalt dazu geschleppt wurden, und
wie die ersten Einsiedler sich selbst mit den em-|<4>
pfindlichsten Martern quälten, und nicht selten
die Bewohner ganzer Länder in grenzenloses
Unglück stürzten. Dies alles war Werk der
Schwärmerei, die auch noch in unsren Tagen
den Mönch die Fackel in die Hand gab, womit
er im feierlichen auto da fé den Scheiterhau-
fen anzündete, und den Dolch darreichte mit
dem er seinen König ermordete. Jede Art
von Schwärmerei ist der Aufklärung nachtheilig,
wenn gleich nicht so sichtbar und auffallend als
Schwärmerei in der Religion; denn jede Schwärmerei
beschäftigt die Einbildungskraft mehr als den Verstand,
und gewöhnt diesen daher sehr bald, sich ganz von
jener leiten zu lassen. Daher sieht der Schwärmer
Dinge, die andere nie gewahr werden; daher erscheint
ihm alles, nicht wie es ist, sondern wie es sein
müste, wenn seine Schwärmerei gesunde Vernunft
sein sollte, wofür er sie doch ausgiebt. Nicht
nur jede Sekte der christlichen Religion, so sehr
auch immer eine der andern widersprach, hat
aus der Bibel bewiesen, daß ihre Meinung
die richtige sei, viele Adepten haben sogar ge-
glaubt, der Prozeß Gold zu machen stehe in dersel-
ben beschrieben. Nichts charakterisiert einen
Schwärmer deutlicher als die Bekehrungssucht, und|<5>
eben deswegen ist Schwarmerei der gefährlichste
unter allen Feinden der Aufklärung. Wie
ein Schneeflocke, der sich vom Gipfel eines Alpen-
gebürgs loßreist, mit jeder Fortwälzung größer
wird, und bald zu einer fürchterlichen Lawine
anwächst, die alles unter ihrem Schutte begräbt,
was sie auf ihrem Wege antrift, so greift auch
Schwärmerei mit jedem Augenblicke weiter um
sich, reist dann mit sich fort was ihr aufstöst, oder
sich widersetzen will, und den weisen, aufge-
klärten Männern des Volks wird es nur dann ge-
lingen die umgeworfenen Stützen der Aufklä-
rung wieder herzu stellen, und die Vernunft
wieder in ihre verlornen Rechte einzusetzen,
wenn sie ihre Absicht vor dem Haufen zu ver-
bergen wissen.

Trägheit des Geistes ist ein zweites sehr
wichtiges Hünderniß, das der Aufklärung im Wege
steht. Aus Trägheit des Geistes flieht der Mensch
alles, was seinen Verstand beschäftigen könnte
und bemüht sich nie, der Thätigkeit seiner Seele,
die er mit den unwillkührlichen Bewegungen sei-
nes Körpers in eine Klasse setzt, eine gewis
se Richtung zu geben. Solche Personen fangen
gewöhnlich mit unglaublicher Hartnäckigkeit an|<6>
alle Meinungen die sie in ihrer Jugend einge-
sogen; ist ihnen damals diese oder jene Sache
als gut oder bös vorgestellt worden, so wer-
den sie sich nicht so leicht von dem Gegentheile
überführen lassen. Bis weilen fallen sie
aber auch in den entgegengesezten Fehler,
und halten alles für Vorurtheile was man
ihnen für Wahrheiten ausgegeben. Trägheit
des Geistes bringt daher allezeit Aberglauben
oder Zweifelsucht hervor. Bei einzelnen Män-
nern ist zwar Trägheit des Geistes ungleich
schwerer zu haben, als Schwärmerei, dennoch
aber ist sie im Ganzen der Aufklärung
bei weiten nicht so nachtheilig, als diese; denn
nie wird ein Träger weit aussehende Plane
schmieden; nie sich’s angelegen sein lassen,
andern seine Meinung auf zu dringen.

Leichtsinn, der gewöhnliche Fehler der
Jugend unter den gesitteten Ständen, führt
auch sehr weit von Aufklärung ab. Einem
leichtsinnigen Menschen ist es sehr gleichgültig,
ob die Begriffe die er hat, richtig oder falsch sind,
wenn sie ihm nur nicht den Genuß sinnlicher|<7>
Vergnügen verbittern. Er greift daher begierig nach
allen Scheingründen, die für die Wahrheit solcher
Meinungen streiten, die ihm nie den mindesten
Zwang auflegen. Den Gedanken sich auf-
zuklären, wenn er ja einmal bei ihm aufstei-
gen sollte, wird er nicht Zeit lassen festen
Fuß zu fassen; er wird ihn vielmehr bald wie-
der vertreiben, indem er seine Sinne durch neue
Vergnügungen kützelt, und dadurch seine See-
le vom Nachdenken abhält. Leichtsinn hat
zwar das mit Schwärmerei und Trägheit des
Geistes gemein, daß er um desto schwerer zu he-
ben ist, je mehr der Grund desselben in na-
türlichen Anlagen, und nächst dem, in der
Erziehung liegt, darinne ist er aber von
diesem ganz verschieden, daß er sich mit zu-
nehmenden Jahren von selbst vermindert,
da diese hingegen fast von Tag zu Tag schwe-
rer auszurotten sind.

Da nur der im Stande ist, andere auf-
zuklären, der schon selbst aufgeklärt denkt, so wird
es zweckmässig sein, zuerst von den Hülfsmittel
zu handeln, das erfordert wird, bei sich Aufklä-
rung zu bewürken, und dann zu dem über-|<8>
über (sic) zu gehen, das nöthig ist, um sie bei andern
zu befördern.

Nur Jünglinge und Männer mit gesundem
Verstande, nicht ganz schlechten Anlagen und einigen
Kenntnisse und Fähigkeiten versehen sind im
Stande, sich selbst aufzuklären; daher das Hülfs-
mittel, das ich hier angeben werde, auch nur
bei diesen anwendbar sein wird. Alles
das, was bei der Erziehung den Verstand der
Jugend schärfen, ihre natürlichen Anlagen ent-
wükeln und die Kenntnisse vermehren kann,
verdient den Namen eines Vorbereitungsmit-
tels, welche ich für gänzlich mit Stillschweigen
übergehe, um mich nicht zu weit von den
Gegenstand meiner Frage zu entfernen.

Das einzige Hülfsmittel, welches erforderlich
ist, bei sich Aufklärung zu bewürken, ist Selbst-
kenntniß. Unaufgeklärte Menschen, die keine
Selbstkenntniß besitzen, werden nie einsehen lernen,
daß ihnen Aufklärung mangelt. Diejenigen
hingegen, die durch Selbstbeobachtung und For-
schung Selbstkenntniß erworben haben, werden
bald gewahr werden, daß überall in ihrer
Seele Finsterniß herrscht, daß ihre Begriffe|<9>
meistens sehr undeutlich und verworren sind,
und daß sie daher das, was man Pflicht nennt,
oder ihnen als Schuldigkeit angerechnet hat, mehr aus
Gewohnheit als Ueberzeugung, mehr aus Nachahmung
als eigenem Antriebe bisher gethan haben,
welches ihnen zugleich die wichtigsten Dinge ken-
nen lernt, über die sie, Aufklärung zu erlan-
gen, sich bestreben müssen. Denn nicht der
verdient den Beinamen eines aufgeklärten
Mannes, der in dieser oder jener Wissenschaft
aufgeklärt denkt; nur der ist dieser ehren-
vollen Benennung würdig, der seinen Geist
über Dinge und Wahrheiten aufgeklärt hat,
die ihn geschickt machen, seiner Bestimmung
nachzuleben und seine Pflichten zu erfüllen.

Derjenige der Selbstkenntniß besitzt, wird ferner
die moralischen Fehler und bösen Neigungen
entdecken, die ihm bei seinen Bemühungen
nach Aufklärung hinderlich sind; denn da er
gewohnt ist, nicht nur den Ursachen seiner Hand-
lungen, sondern auch der Quelle seiner Ge-
danken und geheimsten Wünsche nachzuspüren,
so können sie ohnmöglich lange vor ihn ver
borgen bleiben. Selbstkenntniß zeigt uns|<10>
aber nicht nur die moralischen Fehler und bösen
Neigungen die uns ankleben, sondern sie giebt
uns sogar die schicklichsten und für uns würksam-
sten Mittel an die Hand, durch die wir sie zu
heben vermögen; denn sie lernt uns zugleich die
Dinge kennen, die den stärksten Eindruck
auf uns machen, und die guten Eigenschaften
die wir besitzen, da wir dann diese unsern
Zweck gemäß anwenden, und jene in Verbin-
dung mit demselben bringen können, welches
uns den glücklichsten Erfolg bei Ausrottung
dieser Hindernisse gewähren muß. Selbst-
kenntniß wandelt sogar jeden Fehler in die
mit ihm verwandte Tugend um, welche dann
den Menschen eben so sehr zur Aufklärung
geschickt macht, als ihn jener Fehler dazu
ungeschickt gemacht hatte. So macht sie
den zu einem kalten, genau prüfenden,
durch keine Scheingründe leicht zu betrügenden
Manne, der ohne sie in gemeine Trägheit des
Geistes gerathen, und den zu einem edlen En-
thusiasten, der ohne sie in elende Schwärmerei|<11>
versunken wäre.

Am werkthätigsten zeigt sich aber Selbstkennt-
niß bei Ausrottung der Vorurtheile selbst.
Viele derselben, die wir mit der Muttermilch einge-
sogen, oder die sonst ein gewisses Ansehn über
uns erlangt haben, werden wir in der Folge
öfters ohne große Mühe für das halten lernen,
was sie wirklich sind, nemlich für Vorurtheile,
wir werden uns dann wundern, daß wir dies
nicht eher gewahr wurden, keines Wegs aber
glauben, daß sie wieder Eingang bei uns fin-
den könnten. Dennoch werden sie nicht
selten uns selbst zum größten Erstaunen, mit
der Zeit ihre vorige Herrschaft wieder über uns
erlangen. Mangel an Selbstkenntniß ist
einzig und allein die Ursache dieses Rückfalls.
Nur der, der Selbstkenntniß besitzt, ist sich, nach
Maßgabe der Stärke derselben, seiner dunklen
Ideen - in denen nur zu oft der Grund
unsers Denkens und Handlens liegt – in
etwas bewust, ihm allein ist es daher mög-
lich sie zu berichtigen, und sich dadurch der
völlig [!] Ablegung seiner Vorurtheile zu versi-|<12>
sichern.

Haben wir einmal, von Selbstkennt-
niß geleitet, den Weg zur Aufklärung betre-
ten, so wird uns nichts wieder von demselben
abbringen können. Selbst glückliche oder
unglückliche Begebenheiten, und sogar heftige
Leidenschaften werden dann nicht im Stande
sein, unsre Fortschritte in Kenntnissen und mo-
ralischer Bildung auf zu halten. Dage-
gen Männer die mit Selbstbeobachtung
und Selbstforschung unbekannt sind, den
Eindrücken, die eine glückliche oder unglückliche
Begebenheit auf sie macht, nicht zu widerstehen
vermögen. Jeder nur einigermaßen wichti-
ger (sic) Vorfall der sie trifft, wird vielmehr ihre Aufmerksam-
keit von allen andern Dingen abziehen, und
der einzige Gegenstand sein, mit dem sich
ihre Seele beschäftigt, welches sie, zum wenigsten
auf lange Zeit, zu jedem Fortschritte in der
Aufklärung untüchtig macht. Selbstkenntniß
schüzt im Glücke für Stolz, im Unglücke für Klein-
muth; nur durch ihren Beistand können wir
unsre Leidenschaften mäßigen und ihnen|<13>
eine gute Richtung geben; welches uns allein
geschickt macht wahrhaftig edle und großmüthi-
ge Handlungen aus zu üben. Aechte dauer-
hafte Aufklärung wird daher nie demjenigen
zu Theil werden können, der Fremdling in
der Selbstkenntniß ist. Der hingegen, der in
ihre Geheimnisse eingedrungen, wird sicher -
sofern er nemlich die rechten Mittel anwendet -
Aufklärung, als das Ziel seiner Wünsche und Bemü-
hungen, erlangen.

Eigenes Nachdenken ist die Mutter
der Aufklärung. Wollen wir daher uns
selbst aufklären, so müssen wir vornemlich
über die Dinge nachdenken, auf die uns Selbst-
kenntniß aufmerksam macht. Um zu er-
forschen, ob die Begriffe die wir haben richtig,
oder falsch seyen, müssen wir dieselben zerglie-
dern und wieder zusammensetzen, mit andern,
von deren Richtigkeit wir uns schon überzeugt,
zusammenhalten und vergleichen, und endlich
auf Handlungen und Thaten beziehen. Fin-
den wir, daß sie mit diesen nicht in Wider-
spruch stehen, so werden wir sie als wahr aner-|<14>
kennen, finden wir aber, daß sie mit unum-
stößlichen Wahrheiten, oder als gut anerkannten
Handlungen nicht bestehen können, so werden
wir sie für falsch und unrichtig halten müs-
sen. Zum Gegenstand unsres Nachdenkens
müssen wir aber nicht bloß solche Dinge wählen,
über welche die Meinungen der Menschen
verschieden sind; auch über allgemein an-
erkannte Wahrheiten und selbst über solche
Dinge, von denen wir die richtigsten Begriffe
zu haben glauben, müssen wir nachdenken,
denn oft betrügen wir uns indem wir ge-
wisse Dinge genau zu kennen meinen,
weil wir die Worte, die dieselben bezeichnen,
verstehen und zu gebrauchen wissen.
Um unsre Begriffe noch richtiger, vollständiger
und deutlich zu machen, müssen wir die
Schriften aufgeklärter Männer lesen und mit
aufgeklärten Personen Umgang pflegen.
Lezteres ist besonders von großen Nutzen,
weil wir hier unsre Zweifel vortragen
und um Aufschluß und Belehrung bitten
können. Man giebt gewöhnlich das Reisen|<15>
als ein vorzüglich brauchbares Mittel an, sich auf zu klä-
ren, und dies ist es auch in der That, in so fern
es uns nemlich Gelegenheit verschafft, uns mit
den aufgeklärtesten Männern jedes Landes zu
unterhalten. Soll uns aber das Lesen guter
Schriften und der Umgang mit aufgeklärten
Männer [!] wahre Vortheile verschaffen, so muß ei-
genes Nachdenken damit verbunden werden.
Denn wenn wir nicht über das gelesene und
gehörte nachdenken, so werden wir eben so
viel unrichtige, als richtige Begriffe erlangen,
und selbst die richtigen nie als unser Eigenthum
ansehen können. Wir müssen aber nicht nur
die richtigen Begriffe, die wir aus Büchern und
Unterredungen geschöpft, uns tiefer ein zu
prägen suchen, wir müssen auch die Winke be-
nutzen, die uns dieselben geben, den Weg
weiter verfolgen, auf den sie uns hinwei-
sen, und die Aussichten zu durchschauen
streben, die sie uns zu beiden Seiten eröf-
nen. Auf diese Weise werden wir nicht
selten noch unerkannte Vorurtheile gewahr
werden und neue Wahrheiten entdecken, und
so sicher, wenn wir Selbstkenntniß zu unsrer|<16>
stetigen Begleiterin wählen, einen immer hö-
hern Grad von Aufklärung erlangen.

Nur der, der selbst aufgeklärt, kann
andere wiederum aufklären; denn er allein
weiß worinne wahre Aufklärung besteht und wodurch
sie kann bewürkt werden; er allein wird
sich nicht durch die Schwierigkeiten abschrecken
lassen, die ihm überall aufstoßen werden;
er allein wir bei seinen Bemühungen nicht
auf den Dank und Beifall der Menschen
Rücksicht nehmen, sondern sich durch das Be-
wußtsein, seine Pflicht zu erfüllen, beloh-
nen.

Ich habe Selbstkenntniß als das nö-
thige Hülfsmittel angegeben, bei sich Aufklä-
rung zu befördern, hieraus wird man leicht
abnehmen können, was für ein Hülfsmittel
darzu erforderlich sei, bei andern Aufklä-
rung zu bewürken. Menschenkenntniß
ist es nemlich, die uns die Hindernisse zeigt,
die andern die Erlangung der nöthigen Auf-
klärung erschweren, die uns Anleitung giebt
wie wir ihnen bei Hebung dieser Hindernisse
hülfreiche Hand leisten und überhaupt zur
Aufklärung beförderlich sein können; und|<17>
die hier, nur in einen unvollkomnern Grade,
in allen Stücken das thut, was Selbstkennt-
niß bei eigener Erwerbung der Aufklärung
that, um des willen beinahe alles was ich über
Selbstkenntniß gesagt auch auf Menschenkennt-
niß, als Hülsmittel andere auf zu klären,
past.

Da ich schon oben die Grenzen über-
schritten die mir die vorstehende Frage an-
weist, indem ich von den Hülfsmittel, sich auf-
zu klären; auf die eigentlichen Mittel über-
gegangen bin, so würde ich hier sicher die Er-
wartung meiner Leser teuschen, wenn
ich über die eigentlichen Mittel, bei andern
Aufklärung zu verbreiten, ein gänzliches
Stillschweigen beobachten wollte. In wie-
fern Bücher ein Mittel sind, bei sich Aufklä-
rung zu bewürken, habe mich schon zu zei-
gen bemüht, in wiefern man aber als Schrift-
steller andere aufklären könne, verdient
hier einige Betrachtung, und zwar um so
mehr, da die Meinung Bücher seyen die ein-
zige Quelle aller Aufklärung, so allgemein
und herrschend unter uns ist. Da Men-|<18>
schenkenntniß das erforderliche Hülfsmittel
ist, bei andern Aufklärung zu befördern,
so wird jedermann leicht einsehen, daß es
etwas sehr unzuverlässiges sei, andere
durch seine Schriften aufklären zu wollen
(auch ohne hier in Anschlag zu bringen, daß oft
der vieljährige Fleiß eines Schriftstellers, dessen
Ruhm noch nicht begründet ist, unbenutzt im
Buchladen vermodert) denn wie schwer
ist es nicht, einen einzigen Menschen recht
kennen zu lernen, und findet man wohl
zwei Mensch die bei näherer Untersuchung
nicht die auffallendste Verschiedenheit zeig-
ten? Wie viel Grade von Trieben und Nei-
gungen und wie verschiedene Kenntnisse, Tu-
genden und Laster wird also wohl der über-
denken müssen, dessen Absicht es ist nach seinen
Schriften an der Aufklärung einer ganzen Klas-
se von Menschen, oder wohl gar eines ganzen
Publikums, zu arbeiten? Ich leugne zwar
keines Wegs, daß ein Schriftsteller nicht auch viel
Aufklärung verbreiten könne; vornemlich wenn
seine Arbeiten Personen in die Hände fallen
die sie gehörig zu benutzen wissen; oefterer|<19>
wird er aber, statt wahre Aufklärung zu bewürken
weiter nichts thun, als mit schönen glänzenden
Farben eine schmuzige Leinwand bemahlen, die
noch immer hie und da durchschimmern und ih-
re schöne Decke bald ganz wieder abwerfen
wird. Täglich können wir Beispiele hiervon
sehen. Oefters weiß jemand sehr geschickt
die aufgeklärten Begriffe wieder an (sic) Mann
zu bringen, die er aus diesem oder jenem Bu-
che geschöpft, ohne deshalb die Irrthümer, die er
sagt, gewahr zu werden und die Vorurtheile
die ihn ~~~ [?] abzulegen. Nichts ist leichter – um
dies beiläufig zu sagen – als sich in den Ruf
zu setzen man sei ein helldenkender, aufgeklär-
ter Kopf; man darf sich nur stellen, als verachte
man die Religion und hege über alle Dinge
eine von der gewöhnlichen ganz verschiedene
Meinung, so wird man diese Absicht gewiß
nicht verfehlen; denn gewöhnlich hält der unauf-
geklärte und also größere Theil der Menschen
jeden Freigeist, für einen aufgeklarten Mann
und jeden wahrhaftig aufgeklärten Mann,
für einen Freigeist.|<20>

Wer weiß nicht was Umgang und Beispiel
für Einfluß auf den Menschen haben. Mit
besserem Erfolge wird daher der seine Bemühun-
gen gekrönt sehen, der durch seinen Umgang
andere aufklären will, als der, der durch seine
Schriften Aufklärung zu befördern bemüht ist.
Sturz[1] sagt von dem Grafen von Bernstorf:[2]
wir verließen ihn nie ohne wärmer für die
Tugend zu empfinden, ohne unterrichtet oder
gebessert zu sein. Und so verbreitete die-
ser wahre Menschenfreund gewiß mehr rechte
Aufklärung, als wenn er ganze Werke über
Aberglauben, Vorurtheile und Irrthümer geschrie-
ben hätte. Derjenige der andere durch
Umgang aufklären will, muß vor aller erst,
die Hindernisse zu entdecken und zu heben
suchen, die ihnen die Erlangung der nöthigen
Aufklärung erschweren, welches allein dem
möglich seyn wird, der einen hinlänglichen
Grad von Menschenkenntniß besizt. Ist ihm
dieses gelungen so wird er sie auf Selbstkennt-
niß aufmerksam machen, ihnen zum eigenen
Nachdenken A[n]leitung geben und sich bemühen|<21>
ihren Verstandskräfen bei Ausrottung der Vor-
urtheile selbst, die nöthige Richtung zu geben,
ihnen aber keines wegs seine Meinungen aufdrin-
gen; er wird ihnen endlich die Bücher zum Le-
sen vorschlagen, die für sie die nüzlichsten und
zweckmäßigsten sind, und sie in Gesellschaft
mit aufgeklärten Männern zu bringen suchen.
Ueberdies wird er ihnen noch durch sein Beispiel
zeigen, wie viel aufgeklärte Begriffe auf Hand-
lungen Einfluß haben, und dadurch zugleich
über die ungesitteten Stände diejenige Auf-
klärung verbreiten, deren sie allein fähig
sind. Wer Menschenkenntnis zur Führerin
wählt, wird auf diesen Weg ungleich mehr
wahre Aufklärung verbreiten können, als
der Schriftsteller; denn er läuft nicht Gefahr,
wie dieser, gar nicht oder auch mißverstanden
zu werden, weil er sich nach den Eigenschaften,
Kenntnissen und Fähigkeiten derjenigen richten
kann, die er auf zu klären bemüht ist. Durch
Umgang Aufklärung zu bewürken, wird aber
nicht der am geschicktesten sein, der eine hohe
Stelle im Staate bekleidet, oder durch ein glän-
zendes Aeusere Aufsehen erregt, denn da|<22>
seine Aufmerksamkeit zu getheilt ist, und jeder-
mann die Maske vor ihn aufsteckt, so wird
es ihm sehr schwer, sich diejenige Menschenkennt-
niß zu erwerben, die tief in das Innerste
eindringt und hier allein von Nutzen ist.
Männer die im Stillen, von der Menge un-
bemerkt, einen Theil ihrer Bemühungen
und Kräfte dem Menschenstudium widmen,
werden am ersten wahre Menschenkennt-
niß erlangen, und eben des wegen am
geschicktesten sein, ächte Aufklärung zu
verbreiten, welches gewiß die rühmlichste
Beschäftigung für den Menschen ist, und
ihm zugleich das reinste Vergnügen gewährt,
wenn er sieht, wie dieser oder jener durch sei-
ne Beihülfe die Fesseln des Aberglaubens und
der Vorurtheile zerschlagen, seinen Geist mit
nützlichen Kenntnissen bereichert und sich
so zu einem wahren Menschenfreunde und
thätigen Verehrer der Tugend gebildet
hat.

Aechte Aufklärung würde sicher ausgebreite-
ter unter den Menschen sein, wenn sie Selbstkennt-
niß und Menschenkenntniß gehörig zu schätzen|<23>
wüsten. Die erstere insbesonders ist den meisten,
im eigentlichsten Verstande, nur den Namen nach be-
kannt. Daß die Alten, besonders die Griechen, die
Wichtigkeit der selben erkannten, lehrt die Aufschrift
des Tempels zu Delphis, den man für den Sitz
nicht menschlicher sondern göttlicher Weisheit hielt.
Selbststudium und Menschenstudium sollten uns vom
Alter, wo unsre Verstandskräfte zur Reife gedeien,
bis in die spätesten Jahre ununterbrochen be-
schäftigen; denn nur durch stets fortgesezte
Beobachtung und Forschung unserer Selbst und
anderer Menschen – die uns vielleicht um des-
willen so schwer wird, weil die gewöhnliche Erzie-
hung so wenig darzu vorbereitet – können wir
uns einen gewissen Grad von Selbstkenntniß und
Menschenkenntniß erwerben, und dadurch
in Erlangung und Verbreitung wahrer, dauer-
hafter Aufklärung wichtige Fortschritte zu thun,
hoffen. Könnten wir nur aber auch aufklären,
ohne Selbstkenntniß zu besitzen, so würde doch
diese Aufklärung nicht schätzbar noch wünschens-
werth sein, denn Selbstkenntniß macht es uns allein
möglich unsre Handlungen nach aufgeklärten Be-
griffen ein zu richten. Auch ohne auf Aufklärung |<24>
Rücksicht zu nehmen, bleiben Selbstkenntniß und
Menschenkenntniß die wichtigsten Wissenschaften,
die wir erwarten können; denn sie sind die Grund-
lage jeder höhern Vollkommenheit. Ohne sie würde
selbst das höchste Wesen keiner Vollkommenheit in
irgend einem Stücke fähig sein. Um uns also
den Urquell unsres Daseins so viel als möglich
zu nähern, müssen wir uns besonders auch an-
gelegen seyn lassen, den möglichst grösten Grad
von Selbstkenntniß und Menschenkenntniß zu
erlangen. Selbstkenntniß ist ins besondere
das köstlichste Geschenk der Gottheit. Wie
beneidenswerth ist nicht das Loos dessen, der
sich bewußt ist, da gut gehandelt, oder doch eine
gute Absicht gehabt zu haben, wo man ihn an-
geklagt, zum wenigsten böser Absichten beschul-
digt hat. Am Abend seines Lebens kann
er dann unerschrocken in das Grab sehen,
das sich zu seinen Füßen aufthut, da sich
jenseit desselben eine frohe Aussicht in die
Zukunft vor ihn öfnet, in welcher er sicher
hoffen kann, durch Erlangung eines immer
größern Grads von Selbstkenntniß und Kennt-|<25>
[Anschluss fehlt in der Akte]
vernünftiger Wesen, der für ihn möglichst grö-
sten Vollkommenheit theilhaftig zu werden.

Pomponiatus

Notes

  1. Helfrich Peter Sturz (1736-. Näheres siehe literarische-ernte-in-oldenburg und Wikipedia
  2. H. P. Sturz, Erinnerungen aus dem Leben des Grafen Johann Hartwig Ernst von Bernstorff, Leipzig 1777.