D-Q6681

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Commentary

Der Aufsatz ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Gadow spricht hier erstmals – das ist im Aufsatz selbst notiert. Er ist es nicht gewohnt, sich eigene Gedanken zu machen und bittet darum um Nachsicht… das ist zum Teil Rhetorik, dann jedoch auch noch mehr, Einblick in die Betätigung.

Das Thema ist ihm gegeben. Er geht die beiden Fragen getrennt voneinander durch und gibt nur bedingt einheitliche Antworten – hier wird sukzessive abgearbeitet, und nicht vollständig zusammengezogen und auf einen Nenner gebracht.

Die Themenstellung erlaubt eine rasche Integration der Antwort in die laufende Aufklärungsdebatte:

    Unter einem weisen Mann kann dünkt mich hier nichts anders verstanden werden, als ein Mann der sich durch einen aufgeklärten, richtig denkenden durchdringenden Verstand von dem großen Haufen unterscheidet

Mit dem Thema verbunden ist eine Klippe: Sich zu wundern will einerseits ein Zeichen von Unwissenheit sein – es wundert sich, wer die natürliche Erklärung des Spektakulären nicht geben kann, und wer darum im Bereich der Aufregenden belassen muss, was er da wahrnimmt. Der Verstehende weiß, warum geschieht was er sieht, er kann es wie eine Sonnenfinsternis antizipieren und ist damit vor der Überraschung bewahrt. Müsste denn, so die Klippe, das was wir nicht verstehen, uns anhaltend wundern können – und damit anhalten einen Forschungsanreiz bieten. Hier kommt eine Kritik der menschlichen Schwächen ins Spiel. Es gibt eine Trägheit, die von der arbeitsamen Forschung abschreckt – und irgendwie gelingt es dieser Trägheit nach der Überraschung zu greifen. Logisch differenziert bestehen hier drei Möglichkeiten: Die Verwunderung weicht einer anderen Emotion (eben etwa aus Trägheit) oder sie führt in die Erforschung – die dann wiederum entweder glücklich die richtige Antwort findet oder eine falsche. Jeweils entfällt der weitere Grund zur Verwunderung.

Die Themenstellung scheint mir interessanter sein als die Auflösung. Um was geht es hier auf welchem Terrain? Um das Wundern auf dem Gebiet der Weisheit als einer Tugend – um eine moralische Frage? Um das Wundern auf dem Gebiet der Wissenschaften? In wie weit bestehen Wissenschaften außerhalb der Persönlichkeitsstruktur des sich wundernden Wissenschaftlers? Wie genau liegt die Frage der Aufklärung in alledem? Sie ist gegen eine Vereinnahmung des Wunders durch das Religiöse, das bei der Wunderverehrung stehen bleibt – ist sie strikt gegen das Wunder? Besteht hier die Option dem Wunder im Erkenntnisprozess eine neue Position zu geben?

Bei der Beantwortung stehen die persönlichen Beurteilungen des Menschen und der Tugenden, die er entwickeln sollte, schnell im Vordergrund und blockieren die Optionen anderer Differenzierungen. Das Wunder und die Weisheit sind sehr schnell Privatsensationen, die als Ausgangspunkt breiterer wissenschaftlicher Beschäftigung herhalten müssen.

Transcript


Versuch einer Beantwortung
der Fragen:

Warum sagt man daß Weise wenig be-
wundern, und woher kömts daß kein
Mensch eine Sache lange bewundert, auch
wenn er sie nicht begreifen lernt?

___

Aufklärung, unter den Menschen zu befördern,
Unwißenheit und Aberglauben zu bekämpfen,
dieß sollte Bestreben jedes wahren Menschen-
Freundes seyn; hiezu auch mein Schärflein
dereinst beyzutragen, ist mein eifrigster
Wunsch. Erreiche ich einst diesen edlen
Zweck, so werde ich mich glüklich preisen, und
jahrelange Fleiß und Mühe reichlich belohnt
schätzen. Ich muß bekennen, daß ich
mich durch eigene Bearbeitung selbstgewählter
oder vorgeschriebener Materien nie genug
im Denken und Schreiben geübt habe, und|<2>
daß gegenwärtiger Aufsatz einer meiner ersten Versuche
dieser Art ist. Ich ersuche daher alle diejenigen,
in deren Hände dieser Versuch kommen wird, ihn blos
als diß anzusehen, und mithin die vielen Fehler,
deren er nicht frey seyn kann, bestens zu entschul-
digen.

Ehe ich zu der wirklichen Beantwortung
der vorgelegten Frage schreite, glaube ich daß
es nöthig seyn wird, vorher einige Begriffe
näher zu bestimmen, auf denen meines Erach-
tens alles beruht, was hierüber gesagt werden
kann. Der erste ist der Begrif des Weisen,
der zweyte der der Bewunderung.

Unter einem weisen Mann kann dünkt mich hier
nichts anders verstanden werden, als ein Mann
der sich durch einen aufgeklärten, richtig denkenden
durchdringenden Verstand von dem großen Haufen
unterscheidet, und diesen Verstand, durch guten
Unterricht unterstützt, auf eine solche Art ange-
wendet hat, daß er sich von vielen Dingen,
ihrer Natur und Eigenschaften deutliche und
vollständige Begriffe erworben hat, wovon
der Nicht-Weise entweder gar keine, oder|<3>
doch nur eine sehr dunkle und unvollständige Vor-
stellung sich zu machen im Stande ist. Eben
dieser Mangel an richtiger Kenntniß einer Sache
und an genugsamer Einsicht in ihre Natur und
Eigenschaften ist es, der die Bewunderung er-
zeugt.

Nach dieser Voraussetzung ist also Bewunderung
der Zustand in welchem sich die Seele befindet,
wenn ihr ein Gegenstand, ein Phänomen,
oder sonst etwas aufstößt, das entweder
ganz außer der Reihe ihrer Ideen und Kenntnisse
sich befindet, oder wovon sie sich wenigstens
keinen deutlichen Begriff machen kann.

Wer also mit einer vorkommenden Sache bekannt
ist, und sich die Würkung die sie in dem gegen-
wärtigen Fall äußert, aus ihrer Natur und Eigen-
schaften erklären kann, der wird sie gewiß nicht
bewundern; da im Gegentheil derjenige, bey dem
dieß alles nicht statt findet von Bewunderung
nicht frey bleiben kann.

Nun ist die Frage leicht zu beantworten, warum
bewundert der Weise weniger als andre?|<4>

Der Weise hat, eben weil er weise ist, nach
der Bestimmung des Begrifs von unendlich meh-
rern Dingen deutliche Ideen, ist mit ihrer
Natur, ihren Eigenschaften; ihren wesentlichen
und unwesentlichen Bestimmungen weit be-
kannter, als einer, der vermöge der Eingeschränkt-
heit seines Verstandes und seiner Kenntnisse
nicht unter die Weisen gezält werden darf.

Da nun die Seele nur solche Dinge be-
wundert, die über ihre Sphäre erhaben sind,
so bewundert darum der Weise weniger
als der Nichtweise, weil seine Kentniße
ausgebreiteter sind, und sein Verstand
mehr faßt. Je weiser also jemand ist, d[as] i[ist] je
umfassender sein Verstand, je ausgebreiteter
seine Kentniße sind, desto weniger Dinge
werden ihn zur Bewunderung reitzen können.

Ein Beispiel wird dem was eben gesagt worden,
mehr Evidenz geben – Es tritt eine Son-
nenfinsterniß ein – der große Haufe wird
diese Erscheinung als etwas außerordentliches|<5>
übernatürliches bewundern, oder sie wohl gar
als eine Würkung der erzürnten Gottheit
ansehen: der Weise hingegen, der mit
dem Laufe der Weltkörper bekannt ist, der
weiß, daß diesem zu Folge unserm Planeten
das Licht der Sonne durch den Eintritt des
Mondes zwischen beyde, auf eine Zeitlang ent-
zogen wird, wird nicht nur nicht in Verwun-
derung hierüber ausbrechen, sondern vielmehr
diese Erscheinung die das Schreckbild weniger-
aufgeklärter Menschen ist, noch durch Beobach-
tung zu einer neuen Quelle von Kentnißen
für sich machen.

Man erlaube mir, daß ich mich hier ein
wenig von meinem Zweck entferne, und
eine Bemerkung einschalte, die aus einer
in dem kurzen Lauf meines Lebens gemachten
Erfahrung hergenommen ist. Ich glaube nem-
lich, daß es noch eine Klasse von Menschen
giebt, die wenig oder gar nichts zur Bewunde-
rung reitzen kann, es sey denn daß es|<6>
sie selbst mittelbar oder unmittelbar sehr nahe
betreffe. Ich meine diejenigen die zu träge
und phlegmatisch sind, als daß sie sich die Mühe
nehmen sollten, die ihnen vorkommenden Dinge, wenn
sie nicht in sehr naher Verbindung mit ihnen stehen,
mit forschendem Auge zu betrachten; denn
Betrachtung kann dünkt mich, niemals entstehen,
wenn man nicht wenigstens einige aufmerksame
Blicke auf den Gegenstand geworfen hat.
Ich bin gewiß, daß solche die zu dieser Klasse
gehören, bey Dingen die selbst dem Weisen Be-
wunderung ablokten, gleichgültig vorübergehen
werden, ohne sie zu bewundern; und dieß blos
aus der Ursache weil ihnen ihre Trägheit nicht
zuläßt ihren Geist zu einer ersthaften
Beobachtung anzustrengen, und den vorkom-
menden Gegenstand in Vergleichung mit
dem Umfang ihrer Kentniße zu bringen, um zu er-
fahren, ob er darin befindlich ist, oder nicht.

Ich komme nun auf die Beantwortung der
zweyten Frage; woher kömts daß kein Mensch
eine Sache lange bewundert, auch wenn er sie
nicht begreifen lernt?|<7>

Daß würklich kein Mensch eine Sache lange
bewundert, ist aus der Erfahrung hinlänglich
bewiesen. Bewunderung wenn sie auch
im Anfang noch so groß ist, kann unmöglich
lange anhalten. Die Ursachen warum sich
dieß so verhält, sind so verschieden als die
Subjecte, doch laßen sie sich füglich in drey
Hauptklassen eintheilen.

1.) Entweder hört die Bewunderung von
    selbst auf, wenn die Sache den Reitz der
    Neuheit verlohren hat, und der Gedanke an
    dieselben durch andre verdrängt ist.
2.) Oder es folgt unmittelbar auf die Bewun-
    derung ein Trieb den Grund der Sache zu
    erforschen, und man ist so glüklich sie durch
    langes Nachdenken heraus zubringen.
3.) Oder forscht der Mensch zwar nach der wahren
    Ursache, findet sie aber nicht, und bringt
    sich mit einer falschen, aus der er die vor-
    kommende Sache erklärt, so gut er kann.

Die erste dieser drey Klassen findet bey Menschen
von schlechten odermittelmäßigem Verstandes-
Kräften statt, die sich um wenig selbst bekümmern,
und gern annehmen was sie von andern hören.|<8>

Die zweyte trift seltener, meistens nur bey denen
zu, welche mit einer großen Begierde die Wahrheit
zu erforschen, einen aufgeklärten durchdringenden
Verstand verbinden.

Die dritte kömmt bey solchen vor, welche zwar gu-
ten Willen genug haben um die Wahrheit erforschen
zu wollen, aber nicht Verstandes-Kräfte und Be-
harrlichkeit genug haben, sie zu finden. Hiezu
kömt dann meistens noch ein gewißer Stolz, den
sie darinn setzen, die einmal angenommene
Meinung nicht wieder fahren zu lassen wenn sie
gleich nachher ihres Irrthums überführt werden.

Es hat sehr viel Wahrscheinlichkeit für
mich, daß dieß der Ursprung der vielen
Hexen-Geschichten, und der daraus erfolgten
Grausamkeiten ist, davon das vorige Jahrhun-
dert, und der Anfang des jetzigen so viele trau-
rige Beyspiele liefert. Es gab nemlich
viele die alles, was ihnen vorkam sich erklären
wollten, aber selten konnten. So oft ihnen
nun etwas vorkam, was der eingeschränkte
Umfang ihrer Kentnisse nicht faßte, so schrieben
sie es gleich übernatürlichen Ursachen zu.

Der größere Theil ihrer Zeitgenoßen war|<9>
bereit das für wahr anzunehmen, was sie sagten,
weil es ihnen die Mühe ersparte selbst zu den-
ken; und die wenigen die weise genug waren
um hinter die Wahrheit zu kommen, waren
viel zu schwach um gegen den großen Haufen
etwas auszurichten.

Dieß sind meine Gedanken über diesen
Gegenstand: möchten sie doch von einer
Gesellschaft gebilligt werden, an deren
Beifall mir so unendlich viel gelegen ist! |<10>

[Zusatz von anderer Hand auf der Rückseite des letzten Blattes[1]]

Quid est optabilius sapientia, quid praestantius,
quid homini melius, quid homine dignius?

Cicero de Officiis Lib. II. Cap.2[2]

Notes

  1. Der Tinte und Strichbreite nach könnte es sich um Bodes Hand handeln; eine definitive Zuordnung der Hand ist jedoch schwierig, da die Passage in lateinischer Schrift geschrieben ist.
  2. [Am Original muss überprüft werden, ob die Seite noch zu SK13-110 oder bereits zu SK13-111 gehört.] Das Zitat aus dem zweiten Buch von Ciceros De Officiis ist gekürzt. Hier die ganze Passage mit Übersetzung: „Quid enim est, per deos, optabilius sapientia, quid praestantius, quid homini melius, quid homine dignius? Hanc igitur qui expetunt, philosophi nominantur nec quicquam aliud est philosophia, si interpretari velis, praeter studium sapientiae. Sapientia autem est, ut a veteribus philosophis definitum est, rerum divinarum et humanarum causarumque, quibus eae res continentur, scientia.” – „Was nämlich ist, bei den Göttern, wünschenswerter als die Weisheit, was ausgezeichneter, was besser für die Menschen, was würdiger für die Menschen? Diese streben diejenigen, die Philosophen genannt werden, deshalb an, nicht etwa anderes/ nichts anderes ist Philosophie, als deuten, was du möchtest, abgesehen vom Studium der Weisheit. Die Weisheit aber ist die Wissenschaft, wie sie von den alten Philosophen als Dinge aus göttlichen und menschlichen Gründen definiert worden ist, diese Sachen werden von diesen zusammengehalten.“