D-Q6639

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Commentary

Die Aufsätze von Robertus Stephanus/Schenk sind beklemmend in ihrer Mischung aus selbstbekanntem Laientum und von daher bekanntem Unwohlsein, hier sprechen zu sollen und eine eigene Meinung haben zu sollen – und der Ungeniertheit, die gerade diese Position garantiert. Der Autor muss sich äußern, er weiß, dass er angreifbar bleibt und freut sich auf die Angriffe.

Deutlich gelingt hier nur zum Teil eine Identifikation mit den gestellten Fragen, deutlich aber auch das Bewusstsein, dass gerade die Identifikation mit der gegebenen Antwort hier eingefordert ist. „Ich soll“ „Was soll ich sagen?“

Eine Frage ist, was im selbstgefühlten Kompetenzdefizit neue Autorität wird: die eigene Menschenkenntnis.


Transcript

N:. IV.

Beantwortung der Frage,

„Ob es wahrscheinlicher sey, daß es mehr gute als böse Menschen in der Welt gebe.“


„Gibt es wahrscheinlich mehr gute oder böse Menschen?“ diß ist die Frage die ich heute
beantworten soll.

Jeder Mensch wird vor gut und auch vor bös gehalten, so lange nicht das Gegentheil
dargethan ist. Das eine sagt der Jurist, das andere der Theolog.

Was soll ich sagen? Ich der ich nicht einmal Laye in irgend einer Wissenschaft
bin, und im Gegentheil gehabt habe, über dergleichen Gegenstände unterrichtet
werden?

Meine wenige Menschenkenntnis, (was soll ich’s leugnen.) war mir nur
selten erfreulich. Ich habe vielleicht gegen Menschen verstoßen, sie zur un-
günstigen Stunde; und in einem falschen Lichte gesehen, und wenn sie mich wieder
so sahen, was kann diß in einer so weitläuftigen Wissenschaft, als die Menschen-
kenntnis ist, entscheiden? Auch wohl mehr als daß wir beyde zum Fehlen gemacht
waren?

O! möchte ich von dem Auftrage: über meine Nebenmenschen zu urtheilen, verschont
geblieben seyn! Oder möchten Sie mir es alle, gegenwärtige und Abwesende,
ganz und herzlich verzeihen, wenn ich meinem stärksten Interesse sie zu lieben, viel-
leicht hier und da in dieser Abhandlung, etwas zu wider sage und behaupte, was mit Ihren
ordentlich erlernten Grundsätzen, und mit ihrer Erwartung nicht ganz übereinkömmt|<2>

Doch – wo man gehorsamet, da ist Entschuldigung.

Der Mensch ist ein Geschöpf mit sinnlichen Empfindungen, aber auch mit dem
höhern Vermögen der Vernunft und der Freyheit, nebst der Fähigkeit immer voll-
kommener zu werden, begabt. Er handelt also nicht blos nach Instinct wie das Thier
sondern nach Einsichten; er begehret, wird aber in seinem Begehren durch die
Vernunft so gelenket, daß seine wohltätigen Neigungen ihn selbst ergötzen,
hingegen seine gemeinschädlichem für ihn selbst unangenehm werden müssen.

Dieser Entwurf vom Menschen, leidet in der weitern Ausdehnung eben
so viele Modificationen als die Verhältnisse des Menschen und seine mehrern
oder mindern moralischen Vollkommenheiten verschieden sind. Diese morali[sche]
Verschiedenheit aber wird bey der mir vorgeschriebenen Frage: Ob es
wahrscheinlich mehr gute oder mehr böse Menschen gebe?
vorzüglich
meine Beantwortung bestimmen; denn einmal kann diese Frage
das Gebieth der Theologie nicht berühren, oder sie wäre eine der leichtesten,
weil vor diesen Richterstuhle überhaupt kein Fleiß [?] gerecht und gut ist.

Ich betrachte daher den Menschen blos als Bürger, als Mitglied der
Gesellschaft; setze die Begriffe von gut und bös, fest, beurtheile den
Menschen nach seiner Moralität und Unmoralität im Denken und Handeln;
übergehe dabey nach den verschiedenen bürgerlichen Ständen, die ver-
schiedene, bald bessere, bald schlechtere moralische Richtung der Menschen
nicht; und dann (habe ich anders mein Subject von der rechten Seite
ergriffen) dürfte sich ergeben, ob die Anzahl der Guten oder Bösen|<3>
Menschen wahrscheinlich größer sey.

Die Begriffe: gut, bös wenn sie von Menschen gebraucht werden, sind
mit jenen des Rechts und Unrechts, der Tugend und des Lasters, ohnstreitig
relativ; einer läßt sich an die Stelle des andern setzen; bös aber hat in
meiner Vorstellung eine zu widrige Bedeutung, - ist, dünkt mich, ein
zu harter Gegensatz von gut, so daß ich überhaupt in dieser Beantwortung
statt gut, moralisch, und statt bös, unmoralisch, substituiren werde.

Ein moralischer Mensch ist, dessen Bemühungen für sein eigenes Bestes,
zugleich mit dem Wohle anderer übereinstimmen. Aus dem Gegentheile ist der
Unmoralische sogleich sichtbar.

Diesem nach äußert sich die Gutheit eines Menschen durch moralische Hand-
lungen, so wie die Schlechtheit eines Menschen durch unmoralische Hand-
lungen. Daß die Gesinnungen des Menschen den sittlichen oder unsittliche
Grund seiner Handlungen enthalten, oder daß diese auf jenen beruhen
müssen, ist klar, weil Temperament, Schwäche, Gewohnheit, auch
eine mechanische Tugend und Lasterhaftigkeit hervorbringen können.

Die Gutheit und Nichtgutheit des Menschen ist also, wenn wir etwas be-
stimmtes darüber urtheilen wollen, in seinen Gesinnungen aufzusuchen.
Beyde liegen in seinem Denken, welches dem Handeln vorangehet, beyde leztere
aber in den Vorstellungen die er sich von Vollkommenheit und Unvollkommenheit
macht; folglich in seiner Erkenntnis, die bald kleiner bald größer ist, je
nachdem ihm ein kleinerer oder größerer Grad der Bildung zutheil geworden|<4>
ist. Ist der Grad seiner moralischen Bildung gering, so ist es auch seine Gutheit
oder seine Fertigkeit zum Guthandeln. Wo nicht gut gehandelt wird, da
ist Unterlassung des Guten; da ist Unmoralität, Ungutheit, und Laster-
haftigkeit.

Was wissen und was können Menschen ohne sittliche Bildung von Pflichten
gegen sich selbst und andere wissen? – Was von ihrer ursprünglichen
Würde? – von ihrer Bestimmung? von Lebenspflichten? vom Wohlwollen?
von Mäßigung der Affecten? Von Verläugnung? Von Aufopferung fürs
Ganze? Von Ertragung des angethanen Unrechts? Von erweisen
des guten fürs böse? von Freundschaft, von Darreichung der Hände
zum Frieden? Von Beschützung des fremden Gutes? Von kunstloser
Freundlichkeit? von Zufriedenheit in widrigen Schicksalen? von auf-
richtiger Theilnehmung am Glück des andern? Von Kenntnis-Er-
werb, um der Welt damit zu nützen? von Erleichterung des Nächsten-
elendes? und wie die moralischen Pflichten noch sonst heissen mögen,
die sich durch ihren inneren Gehalt so sehr empfehlen? Ist auch wohl
die Gutheit eines ungebildeten Menschen mehr als höchstens ein bißchen
moralische Anlage? und seine Kenntnis was anders als ein höchst
geringe Anzahl bloß natürlicher Gesetze auf die sich seine Handlungen
einschränken.

Man kann überdieß viel leichter über die höhern Stände ein richtiges
Urtheil fällen, als über den größten und gemeinen Haufen der Menschen.|<5>
Jene ziehen unsere Aufmerksamkeit mehr an sich; wir finden ihre Art zu denken
und zu handeln mehr nachahmungswürdig, und sie bleiben selbst dem Publikum
weniger verborgen, dahingegen die Denkungsart der geringeren Stände
wenn man nicht unter ihnen lebt und mit ihnen zu thun hat, unseren
Auge entfliehet. Sind aber jene, die aufgeklärteren Classen, selbst
nicht von Fehlern, von Unmoralität und Schlechtheit frey; ist die Geschichte
in Rücksicht auf sie (videatur Klügels Encyclopedie 2r Theil pag[ina] 630)[1]
nichts anders als eine bittere Tadelschrift, die von Anfang biß zu Ende;
Kriege, Empörungen und Grausamkeiten erzählt, wo Menschen gegen
Menschen kämpfen, vermeintliche Gegenstände ihres Hasses zu verwünschen
suchen, biß zum Schauderm erfinderisch in allen Arten der Rachsucht
sind, die Weisheit, Gerechtigkeit und Menschenliebe entehren, Habsucht,
Ehrsucht, Verschwendung, und sinnliche Befriedigung in ihren Busen hegen;
Aberglaube, Schwärmerey, und Intoleranz die Stelle einer Religion einnimmt,
die der Seegen der Menschheit seyn sollte; wo man sich verschworen zu
haben scheint, ganze Nationen in Unwissenheit zu erhalten, und die christ-
liche Kirche durch Gefängnis, Martern, und Scheiterhaufen zu befestigen
sucht, wo sich der Verfolgungsgeist abscheulicher Grausamkeiten schuldig
macht; wo man der feigen menschlichen Natur durch das Joch der
Sclaverey zu nahe tritt, das Leben und Wohlseyn vielerTausende gering
schätzt; wo man noch jetzt mit Menschen Handlung treibt; ihnen die schwersten
Arbeiten auflegt:[2] was würde man, wären die Kräfte der untern Classen|<6>
von Menschen nicht eingeschränkt, nicht erst von diesen für eine Menge unguter,
feindseliger Neigungen Bevortheilungen, Verleumdungen, Neid, etc. bemerken müssen,
wenn gedruckte Nachrichten davon vorhanden seyn könnten.

Zum Beweiß meiner Meinung darf ich hier überhaupt jene fürchterlichen
Auftritte, die man Aufstand, Rebellion oder Bauernkriege nennt, anführen,
wo oft ein einziger unruhiger Kopf das Signal gab, und tausende sogleich
zu seiner unglücklichen Fahne schworen. Konnte irgend ein unerträgliches
Joch diese Menschen zum Aufruhr berechtigen? Gewiß nicht. Der Mangel
an Bildung war es, der sie zu solchen Schritten verleitete, und – heil allen
weisen Regierungen! der Mangel an Ursach ist es noch jetzt, und nicht die
menschliche Gutheit daß sie nicht öfterer ihre immer schlechtere Gemüthsbe-
schaffenheit an den Tag legen; denn der Stand des Affects kann hier nicht
in Anschlag kommen, weil der Mensch nach meiner oben gegebenen
Definition mit dem Vermögen der Vernunft begabt ist, die über
Leidenschaften herschen soll.

Man mache den Versuch mit einem ungebildeten Menschen; man sehe
ihn beleidigt, und man wird ihn ganz gewiß auch im Zustande des Affects
sehen; keine Spur der Vernunft, höchstens Phlegma, Bequemlichkeit
und natürliche Trägheit wird den Proceß schlichten. Ist er nicht träge
sondern feurig und heftig: so wird sich die Sache ganz anders verhalten
und daß ich mich des Ausdrucks bediene, ein Hagel auf den Donner folgen
Ich rede hier von den niedern Classen der Menschen ohne Bildung und|<7>
Sitten; ohne Handlungen die sich auf motive der Vernunft gründen, aber just diese
Anzahl ist die größte und kommt mit den verschiedenen Berechnungen aller Geschichten
der Menschheit, Geographen und Weltumsegler, die ohngefähr von 1080.000000 Menschen
den zehnten Theil vor gebildet angeben, überein.

Ich kann mich schwerlich überreden, und ich nehme gerne meine eigene Verdorbenheit
mit zu Hülfe, in der ich jedoch nicht immer zu verharren gedenke, daß die Summe
des Schlechten nicht die Summe des Guten überwiegen solle. Fühlten wir das
nicht, warum wird eine blos mittelmäßige gute That sogar durch den Druck
empfohlen? doch vermuthlich um andere dadurch zu prüfen Beyspielen zuneigen,
des guten mehr und des Unguten weniger zu machen. Warum erblicken
wir so häufige Anstalten die den guten die Oberhand zu verschaffen suchen?
Gäbe es mehr gute als schlechte Menschen, so würde das Gute, weil das
Beyspiel mehr als alle Lehren wirkt, die pluralität des Unguten längst
übertroffen haben. Ist nicht individuelles Interesse durch alle Stände
beynahe, die Triebfeder menschlicher Handlungen? Ziehen sich nicht die Menschen
auch in den gesitteten Ständen fast jeder in seinen eigenen Winkel
zurück? Woher kömmt dieses Mißtrauen, diese Entfernung vom
Menschengeschlechte, dem wir uns kaum noch anders als immer mit der
Furcht zu nähern getrauen, daß uns von ihm eben etwas Ungutes
begegnen könne?

Ich möchte allerdings sehr wünschen, daß die guten vortheilhaften Begriffe
vom Menschengeschlechte nicht vielmehr von seinem Schatten als vom Urbilde her-|<8>
genommen seyn möchten. Die Geselligkeit ist uns angebohren, ist Inst[inct]
wie sich das Thier zum Thier gesellet. Wenn er sich der Mensch nun doch von seinem
Geschlechte zurück zuziehen genöthiget ist, so muß er nothwendig Gründe und
widrige Erfahrungen haben.

Der see[lige] Rousseau mag nicht über allen Beweis hinaus seyn; aber
er hat gesagt: Ich fliehe die Menschen, damit ich sie durch noch mehr [Er-] [3]
fahrungen nicht zu fassen genöthiget bin werde.

Doch wie schwer ist überhaupt ein schickliches Motto über das mensch[liche]
Herz! Es ist so, und ist so, je nachdem es Ursache findet, anders
zu seyn!

Wer hat diß Herz verheeret?
So kam es nicht aus Gottes Hand!
Der Mensch durch eigne Schuld hat seine Würd‘ entehret
Und beydes fiel, sein Herz und sein Verstand.

                                                          Gellert[4]

Syrakus verlesen in der M[inerval]. K[irche].
d. 21 Din 1154

Robertus Stephanus

Notes

  1. Georg Simon Klügel (1739-1812), Mathematikprofessor in Helmstedt (1767) und Halle (seit 1787), Autor einer Enzyklopädie, oder zusammenhängender Vortrag der gemeinnützigen Kenntnisse (3 T., 1782–84; 21792-1817, 7 T.). An der angegebenen Stelle heißt es „Was ist die Geschichte anders als die bitterste Tadelschrift auf das menschliche Geschlecht?“
  2. Die oberhalb stehende Passage ist eine Paraphrase der Seite 631f. bei Klügel.
  3. Auch im Original kaum zu erkennen, aber ggf. am Zitat überprüfbar
  4. Siehe den Wikipedia Artikel zu Christian Fürchtegott Gellert