D-Q6645

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Commentary

Interessanter Aufsatz im Blick auf die Vorstellung von menschlicher Entwicklung und auf sie auszurichtender Erziehung.

Tromsdorf beklagt, dass die religiöse und moralische Unterweisung für die meisten Menschen mit dem 13. und 14. Lebensjahr endet. Danach greift weder die Lektüre moralischer Bücher flächendeckend, noch gelingt es, die Gottesdienste zur Unterweisung zu nutzen – sie gehen an der Jugend wie an der untersten arbeitstätigen Klasse vorbei, die froh ist, wenn nach der Arbeit die Zerstreuung beginnt.

Die moralische und religiöse Erziehung finde prekärer Weise in den ersten Jahren der Kindheit statt, wenn der Mensch noch auf der Stufe eines von Instinkten geleiteten Tieres stehe. Gut wäre, es Moral zu lehren, und das gehe erst in den Jahren, die derzeit der Berufsausbildung vorbehalten sind, in den späten Jünglingsjahren, die Tromsdorf für die beste Zeit moralischer Einwirkung erachtet.

Sein Vorschlag darum: einen eigenen Unterricht der Moral speziell für die unteren Stände einzurichten, bei denen freilich das Problem besteht, dass sie hierzu keinen zeitlichen Freiraum haben. Auf dem Lande übernehmen die Jungen, nach der Grundschulausbildung Knechtsarbeiten. In der Stadt werden sie in die Lehre gesteckt und dort beansprucht. Die Option in der Stadt wäre es, eine wöchentliche Stunde freizumachen und auf dem Lande die Wintermonate, in denen die Bauern dreschen, zu nutzen.

Nötig wäre allerdings auch hier die Initiative und das Regulativ von oben: es müsse „wie bey der Einführung der mehresten heilsamen Institute die Landesregierung eintreten“. Der Landesvater muss die öffentlichen Lehrer bestellen und Lehrpläne mit Prüfungen ausarbeiten, auch muss von ihm der nötige Zwang ausgehen, der zum Unterrichtsbesuch führt – der Nutzen der Einrichtung würde das rechtfertigen.

Ich kann es nicht genau festmachen, hier geht es nicht um die Öffentlichkeit, als Agens, sondern den Landesvater, der öffentlich auftritt und aus seiner Schatulle Gutes tut, was seinen Ruhm steigert. Noch sind wir nicht bei der sich selbst regulierenden Gesellschaft angelangt. --Olaf Simons (talk) 22:04, 7 July 2019 (CEST)

Transcript


                                                                               Taulerus

Der zu frühzeitig abgebrochene Unterricht
des gemeinen Mannes, eine der vorzüglichsten Ursachen, warum
er in der religiösen Aufklärung und moral[ischen] Ausbildung
so weit zurück bleibt.



Es ist einer von den allernachtheiligsten, und doch nur allzuwenig bemerkten
Fehlern des Erziehungswesens, daß sich die Zeit der öffentlichen Belehrung, welche
der gemeine Mann und der größte Theil des höhern Standes über ihre moralische Ver-
vollkommnung erfährt, gewöhnlich nur bis auf das 14t[e] Jahr erstreckt. Das ist
die Einrichtung in Dorfschulen. Eben so verhält sich es in Städten mit dem zur
Handwerk Kunst oder Handlung bestimten Jüngling. So bald er das 13te
höchstens 14te Jahr erreichet, so wird er zu den Genuß des H. Abend-
mals angenommen, für hinlänglich unterrichtet erkläret, und der Schule entlassen.
Mit diesem Zeitpuncte hören für den grösten Theil alle fernere aufklären-
de Unterweisung, welche auf religiöse Kentnisse und moralische Ausbildung|<2>
zweckten, auf. Man könte glauben, daß der in den Grundwahrheiten der
Religion unterrichte[te] Jüngling nun durch eigenes Lesen moralischer Schriften, und
Besuch des öffentlichen Gottesdienstes weitere Fortschritte thun könnte: allein
moralische Schriften kommen selten in die Hände junger Menschen, und Predig-
ten sind für einen jungen Menschen, der se[ine] Denkungskraft noch nicht so lange auf
einen Gegenstand zu fesseln vermag, ganz unbrauchbar, und selbst für die er-
wachsene Klasse des noch in der untersten Stufe der Ausbildung stehen-
den Volk ganz unwürksam. Die natürliche Folge hiervon ist, daß der [mei-]
ste Theil in den Jahren des Jüngling den ganzen Religionsunterricht wieder [ver-]
gißt, den er in Schulen erhielt, da er nicht die mindeste würksame Anlei[tung]
hatte ihn weiter fortzusetzen, sich nun die Woche hindurch in seine Bestim-
mungs Geschäfte zerstreuet, und des Sontags sich mit Belustigungen aufzu-
heitern sucht. Gewöhniglicher Weise erlöschen bald zugleich die wenigen morali-
schen
Funken von moralischen Gefühl, welche der rührenden Vortrag des
Lehrers in ihm erweckte.

Seltsam genug! Zur Erlernung eines jeden Fachs, das man als
Berufsarbeit wählt, werden die edelsten Jahre des Menschen, sein|<3>
sein [!] Jünglingsalter ganz verwendet. Und zur Erreichung der würdigsten Bestimmung
zu der er sich nach der Absicht des Urhebers der Welt erheben sollte, der Würde eines nach
Grundsätzen der Weisheit und Güte sich in seinen freien Handlungen entschliesenden und
würkenden Geistes, wird die Belehrung, die ihm in den Jahren der Kindheit mit-
getheilt wird für hinlänglich betrachtet. Und scheint nicht diese Behandlung äu-
ßerst verkehrt zu seyn, den Menschen zu einer Zeit mit den erhabensten Kenntnissen
zu beschäftigen, ihm moralische Vorschriften zu geben, in der er noch im thierische Stande
lebt, seine Denkungskraft sich noch so wenig entfaltet, und seine Handlung mehr
Würkungen des Instincts, als das Resultat seiner Entscheidungen sind: her-
gen [?] ihn in Jahren, in denen sich nun die Kräfte des Nachdenkens entwickeln, die mora-
lischen Anlagen sichtbarer werden, in denen aber auch seine Triebe ihn echt mit gewaltsamen
Sturm zu den schädlichsten Leidenschaften und Ausschweifung dahin reisen, in denen der
Ruf der Verführung für ihn so süssen, so mächtigen Reiz hatt, wo er eines Führers
so unentbehrlich bedarf, ihn ohne allen ferner Unterricht über das was für ihn gut, edel [?]
und schädlich ist zu lassen. Das ist eben so, als einem Blinden, eine [!] weitläuftiges
Gemählde von einem Weg zu geben, auf den er zu seinem Glück wallen
könte, ihm aber nun, da ihm ein günstiger Zufall seine Augen|<4>
öfnet, und in stande setzet, diese wichtige Nachrichten zu benutzen, ihm alle ferner
Belehrung hierüber gänzlich versagen. Ist es wohl möglich, daß ein nach dieser Art
gebildetes Volk je Wärme für Religion und Tugend zu empfinden vermag. Eben
in dem Alter der Blüte, in dem sich sein künftiger Charakter formt, in dem aber auch
das Gefühl für das Schöne vorzüglich erwacht und sich in seine Vorstellungen
einmischt, werden ihm die Kentniße der religiösen Rechtschaffenheit gänzlich vorent-
halten. Nur dem Jüngling, der in seinen Jahren so viel Empfänglichkeit für das
Schöne äusert, strahlet edele Tugend mit dem liebenswürdigsten Reigen ihrer gött-
lichen Anmuth in dem mächtigsten Feuer entgegen und entzündet ihn mit dauer-
haften Enthusiasmus. Aber sie bleibt für den verhüllt, sie ist blos leerer Schall
für den der sie in seiner Kindheit blos nennen hörte, und sich wohl bey genau-
rer Erforschung moralischer Pflichten in die Jahre der Kindheit zurück zu sehen
glaubt. Ich halte es für unnöthig weitläuftiger zu werweisen, daß in dieser Gewohn-
heit den Religionunterricht blos auf die Jahre der Kindheit einzuschränken, die vorzüg-
lichste Ursache liege, warum die Religion so wenig Einfluß auf die moralische Ver-
vollkommnung äussere.|<5>

Wie könnte aber nun dieser Unvolkommenheit abgeholfen werden?

Die schicklichste und vortrefflichste Einrichtung wäre unstreitig diese, daß öffentliche Schulen er-
richtet würden, in denen Jünglinge, die nicht zum Studiren bestimt, von dem 14ten biß 17t[en] Jahre
ferneren Unterricht genössen. Welche heilsame auf ihr wahres Beste zweckende Kentnisse kön-
ten ihnen ausser der fortgesetzten Religions Unterweisung mitgetheilt, und sie dadurch in Stande
gesetzt werden, dereinst in ihrem künftigen Fache mit grössen Vorschritte zu thun. Allein das
ist nun nach der gegenwärtigen Verfassung so leicht nicht thunlich, nach der der Bauern Sohn
so gleich die Dienste des Knechts übernehmen, und in Städten der junge Mensch, der sich dem
Handwerk widmet, den Lehrlingsstand antreten muß, so bald sie die niedrigen Schulen ver-
lassen haben.

Allein das läßt sich als ausführbar gedenken, daß Jüngl wöchentlich einige Stunden aus-
gesetzt würden, in denen Jünglinge einen fortgesetzten auf ihre moralische Vervollkomm-
nung sich beziehenden Unterricht erhielten

Auf dem Lande könten hierzu vorzüglich die Wintermonathe, in denen Feldarbei-
ten ruhen gewählet werden. Der geringe Schade, daß sie vielleicht diese wenigen Stunde
dem Dreschen entziehen müßten, könte leicht bey gebracht werden, und würde schon durch
die zunehmende moralische Ausbildung auf das herrlichste ersetzt.|<6>

Und wie leicht würde in Städten der Handwerksmeister, der Künstler der
Kaufmann u.s.w. die ihnen untergebenen Lehrlinge jede Woche einige
Stunden missen können. Freilich müßte auch hier, wie bey der Einführung
der mehresten heilsamen Institute die Landesregierung eintreten, theils um öffent-
liche Lehrer hierzu anzustellen, theils um Jungen zum Besuch der Hörstunden anzu-
halten, auch wohl öffentliche Prüfungen zu veranstalten u.s.w.

Der Vortheil, welcher aus einer solchen Anstalt für die moralische Vervolkomm-
nung des Volks entsprossen würde, ist allzu ausgebreitet, als daß er nicht die
sorgfältigen [!] Beherzigung des Menschenfreundes verdienen sollte.

Notes